"Es tut mir leid, Kaziir. Das ist alles eine große Veränderung, die ich erst einmal verkraften muss. Ich kenne dich schon seit so vielen Jahren, du warst immer gut zu mir. Zärtlich und liebevoll. Niemals bist du wütend geworden, ausgerastet. Und in all diesen Jahren warst du bereits aus diesem Programm ausgeschieden. Du warst bereits ein Berserker. Ich weiß im Moment einfach nicht, was ich denken oder tun soll. Ich weiß nur, dass ich dich nicht verlieren will. Lass mir bitte etwas Zeit, um über alles nachzudenken. Ein paar Stunden nur. Ich wünschte wirklich, die anderen wären hier, damit ich mit ihnen darüber reden kann."
"Nimm dir so viel Zeit, wie du benötigst, aber versprich mir, mit niemandem darüber zu reden. Auch nicht mit unseren Freunden. Ich werde jetzt der ProTeq ein Besuch abstatten und zusehen, was ich über den Regierungswechsel in Erfahrung bringen kann. Solltest du danach noch hier sein, können wir gerne noch einmal über alles reden. Wenn du gegangen bist, dann werde ich das akzeptieren." Kaziir beugte sich zu Tandra runter, die immer noch auf dem Bett saß, und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Mit einem Lächeln drehte sie sich um und verschwand durch die Tür. Die junge Frau schaute ihr noch lange nach. Bilder aus der Vergangenheit erschienen vor ihrem inneren Auge. Szenen aus glücklichen Tagen. Zeiten, die sich tief in ihr Herz eingebrannt hatten. Sie ließ sich zurück auf das Kissen sinken und schloss die Lider. Es dauerte nicht lange, da war Tandra erneut eingeschlafen. Ihre Mundwinkel wurden von einem zufriedenen, fröhlichen Lächeln umspielt.
In der Zwischenzeit betrat Kaziir die örtliche Zentrale der ProTeq, als würde ihr das Gebäude gehören. Eine aufgeregte Stimme rief hinter der Suprimegeneralin her, die sie jedoch völlig ignorierte. Dann hörte sie das Klacken der Militärschuhe, die ihr mit raschen, ausladenden Schritten folgten. Schließlich überholte der Mann sie und versuchte sich darin ihr Einhalt zu gebieten.
"Was wollen Sie?", fragte Kaziir streng
"Wer sind sie und was wollen Sie hier?", antwortete der etwa dreißig Jahre alte Soldat mit einer Gegenfrage.
"Haben sie hier das Sagen?", erkundigte sich nun wieder Kaziir fragend.
"Nein…"
"Dann gehen sie mir aus dem Weg, sonst landen sie als blutiger Fleck dort drüben an der Wand." Sie schaute den Mann durchdringend an, während ihre Iris langsam einen rötlich-goldenen Glanz annahmen. Der Soldat, ein Ferus Decem, wie sie an seinen Abzeichen erkannte, wurde nervös. Er hatte eine solche Veränderung noch nie zuvor gesehen. Hilfe suchend schaute er sich nach jemandem um, der ihm aus der Situation befreien konnte. Doch alle Anwesenden interessierten sich entweder nicht für das Geschehen oder bekamen es schlicht und ergreifend nicht mit. Als er wieder nach vorne blickte, war Kaziir aus seinem Sichtfeld verschwunden. Sie hatte sich einfach weiter auf den Weg zum Fahrstuhl gemacht. Als der Ferus Decam das erkannte, lief er erneut hinter der Frau her.
"Sagen Sie mir wenigstens, wo Sie hin wollen, damit ich Sie anmelden kann", verlangte der Mann jetzt mit ruhiger Stimme.
"Mich muss man nicht anmelden. Das sollten Sie mittlerweile mitbekommen haben. Und, wenn sie es unbedingt wissen müssen. Mein Name ist Agent Kaziir." Ein helles Ping gab die Ankunft des Fahrstuhls bekannt, den die Suprimegeneralin umgehend bestieg. Sie drückte auf den Knopf zum Schließen der Türen, um dann den für die oberste Etage folgen zu lassen. Zufrieden lächelte sie über ihren Auftritt. Auch, wenn ihr der arme Soldat ein wenig leid tat. Er konnte ja nichts dafür, dass sie sich hier so ungefragt einfach hineindrängte.
Es dauerte ein bisschen, dann hielt die Kabine im dreiundzwanzigsten Stockwerk des Gebäudes. Hier oben befanden sich die Räumlichkeiten der hochrangigen Offiziere, wie Kaziir zumindest hoffte. Andernfalls müsste sie eine weitere Person einschüchtern, ihr die passenden Informationen zu geben. Die Frau betrat den Gang, der erstaunlich ruhig war. Man hätte den Eindruck bekommen können, die Etage sei vollkommen leer und unbenutzt. Doch dann öffnete sich am anderen Ende des Ganges eine Tür, aus der eine junge Frau trat. Ohne sich die Mühe zu machen, ihr näher zu kommen, verlangte Kaziir zu erfahren, wo sie den Kommandanten finden würde. Verwundert darüber, dass jemand sich so ungebührlich benahm, blickte sie die Renegatin abfällig an.
"Wo finde ich ihn?", wiederholte Kaziir, während sie sich auf die Person zubewegte.
"Was wollen Sie von dem Kommandanten?"
"Das werde ich ihm schon sagen. Also, wo ist er?"
"Können Sie sich erst einmal ausweisen? Was machen sie überhaupt hier im Gebäude und wie sind sie hier hoch gekommen?"
"Mit dem Fahrstuhl", beantwortete Suprimegeneralin den letzten Teil der Frage, nachdem sie die Frau erreicht hatte. "Ich brauche mich nicht auszuweisen. Mein Name ist Agent Kaziir. Und jetzt sehen sie zu, dass Sie mir sagen, wo ich den Kommandanten finde.
"Was ist denn hier draußen los?", erschallte plötzlich eine weitere, tiefe Baritonstimme.
"Sind sie der Kommandant?", fragte Kaziir sofort, ohne der Frau auch nur den Hauch einer Chance zu lassen den Mann über die Situation aufzuklären.
"Der bin ich. Und sie?" Kaziir stiefelte mit großen Schritten auf den kräftigen Mann zu.
"Ich bin Agent Kaziir. Und wir werden uns jetzt einmal ausführlich unterhalten." Mit ausgestrecktem Arm schob sie den Mann wieder zurück in sein Büro und schloss die Tür. Nach kurzem Zögern setzte er sich erneut an seinen Schreibtisch und wartete ab, was sein Besucher vorzubringen hatte. "Wie Sie sich denken können, bin ich vom Geheimdienst. In dieser Position habe ich die Aufgabe von Ihnen alles über den Sturz der Regierung zu erfahren." Der Mann schaute verwirrt.
"Ich verstehe nicht. Es ist doch alles nach Plan gelaufen."
"Ist es das?", bohrte Kaziir nach. "Wir haben da etwas anderes gehört."
"Oh", brachte der Kommandant hervor. "Was genau, haben Sie denn gehört?"
"Das wissen Sie nur zu gut. Spielen Sie also keine Spielchen mit mir. Ich höre." Kaziir hatte sich groß vor dem Schreibtisch aufgebaut und blickte auf den Kraftprotz herab, der jetzt gar nicht mehr so eindrucksvoll aussah.
"Alles verlief genau, wie es von Oben geplant war. Wir stürmten den Bundessenat und nahmen alle anwesenden Politiker fest, um sie unter Hausarrest zu stellen. Doch das verweigerten diese vehement. Sie wollten nicht in ihren Häusern untergebracht werden. Mittlerweile wissen wir auch, warum. Die Politiker, die wir verhafteten waren nicht die Menschen, sondern ihre Deriwate." Kaziir riss innerlich die Augen weit auf. Das war also Mår-quells Geheimnis. Sie war in den ganzen Jahren überhaupt nicht persönlich in der Hauptstadt anwesend. Und das bedeutete, dass die Regierung überhaupt nicht gestürzt wurde, da die realen Politiker immer noch irgendwo in Freiheit waren. Das wiederum besagte, sie würden alles daran setzten, die Macht zurückzuerlangen.
"Dann stimmt das also, was wir in Erfahrung gebracht haben. Sie haben bei der Machtübernahme versagt. Können sie uns sagen, was wir Ihrer Meinung nach jetzt damit anfangen sollen. Nicht nur, dass der Widerstand mit Sicherheit mit der neuen Regierung nicht einverstanden ist und uns bekämpfen wird, nein, wir haben auch noch die alte Regierung, die alles daran setzen wird, zurückzukommen. Wie um alles in der Welt konnte ein solch eklatanter Fehler nur passieren?"
"Was hast du jetzt vor?" erkundigte sich Misuk bei Thevog, der sich nach dem Gespräch mit ihrem Vater in die Bibliothek zurückgezogen hatte.
"Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Tebeel hat mir ein Angebot gemacht, über das ich schon die ganze Zeit nachdenke."
"Hat er dir vorgeschlagen, ein Agent zu werden?"
"Nein, ein Navigator." Misuk schaute den Jungen überrascht an. Das hatte sie nicht erwartet. Allerdings konnte sie verstehen, warum.
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