Solch ein ambitionierter Mann war allerdings selten. Kennengelernt hatten sie sich nicht.
Kerstin nahm also ein Thema des Profils auf, schrieb und wenn eine Antwort kam, so reagierte sie, nach einer angemessenen Zeit, und stellte wiederum eine Frage. So wie eben Kommunikation fortschreitet.
Nun hatte sie eine neue Idee. Der letzte Mann, den sie kontaktiert hatte, sprach in seinem Profiltext oder auch bei der Lieblingslektüre von Kugelmenschen. Der Begriff war ihr fremd. Sie dachte dabei an Science-Fiction, an alte expressionistische Filme. Auf jeden Fall fragte sie als Einstieg, was sie auch hätte googeln können:
„Was sind Kugelmenschen?“
Nach ein paar Tagen kam eine Antwort:
„Sind aus der Mythologie. Die beiden Hälften der Kugel müssen zusammenpassen, zwei Menschen vereinen sich zu einer Kugel.“
Wieder ein paar Tage später, das selbstauferlegte Intervall von, na ja, halt ein paar Tagen, beachtend, bedankte sich Kerstin für die Info und wies darauf hin, dass sie dadurch eine Bildungslücke geschlossen habe. Sie wünschte ihm einen schönen Sonntag.
Während sie antwortete, beim Zweitkontakt stand funktional mehr Platz zur Verfügung, dachte sie noch: eigentlich müsste ich nun die Anschlusskommunikation in die Wege leiten, sprich eine weitere Frage stellen. Aber sie war an diesem Tag maul- und schreibfaul. Und beließ es dabei.
Nun rechnete sie auch nicht damit, von ihm, der halben Kugel, wieder etwas zu hören. Gleichzeitig, ganz unterschwellig, schlich sich das Gefühl ein, dass dies weniger entgegenkommende Verhalten vielleicht einen besonderen Reiz ausmache.
Und tatsächlich, ein paar Tage später kam wiederum eine Replik. Sein Interesse war geweckt.
Und diesen Kniff wollte sie nun weiter anwenden: Kontaktieren, im Falle einer Antwort reagieren, aber keine Frage mehr stellen. Übrigens, geantwortet hatte der halbe Kugelmensch:
„So schlimm ist das nicht, dass du das nicht wusstest. Nicht wirklich eine schwerwiegende Bildungslücke. Was treibst du sonst denn so? Liebe Grüße, Werner“
Nicht zu jedem passte die Vorgehensweise, auf wen sie passte, das hatte Kerstin bisher noch nicht definiert. Auf wen es nicht zutraf, wusste sie bereits: Soulman.
Hatte sie oder hatte Soulman zuerst den Kontakt aufgenommen? Kerstin saß gerade nicht vorm Computer, daher konnte sie die Frage nicht umgehend überprüfen und beantworten. Soulman ließ sporadisch von sich hören, meldete sich des Öfteren auch nur für einen Monat im System an. Er hatte außergewöhnlich freundlich mit ihr geredet, ohne anbiedernd, anzüglich oder plump zu sein. Deshalb ging Kerstin auch immer wieder darauf ein, wenn er sich meldete. Es war genau der Tonfall, wie ein Mann mit einer Frau reden sollte, fand Kerstin, auch wenn sich das bürgerlich und stereotyp anhört. Er machte ihr Komplimente wegen ihres Aussehens, war romantisch, wurde in seinen Äußerungen konkret. Zum Beispiel schrieb er einmal:
„Du siehst so lebendig aus.“
Oder ein anderes Mal:
„Ich würde gerne mit dir am See einen Rotwein trinken und schauen, wie die Sonne untergeht.“
Weiter:
„Heute war ich in deiner Stadt, habe nach dir Ausschau gehalten, habe dich aber nicht gesehen.“
Dass immer wieder Wochen verstrichen, bis Soulman auf ihre Nachricht antwortete, ließ Kerstin vermuten, dass er Probleme hatte. Finanzielle, familiäre, psychische. Möglicherweise der Alkohol.
Sein Foto – eine Aufnahme im Profil – zog Kerstin nicht an, schreckte sie aber auch nicht ab. Die Nase war markant, aber gut geformt, die Haare graumeliert, kurz geschnitten und nach hinten gebürstet; die Lippen sah man zwar kaum, konnte aber erkennen, dass sie ausgebildet waren. Was Kerstin weniger mochte.
So verging die Zeit. Kerstin und er waren immer kurz davor eine Verabredung zu treffen; klappte aber nie.
In der Zwischenzeit chattete sie mit einem Farbigen, ein Franzose aus Neuchâtel. Er war so begeistert von ihr, dass er gleich vorbeikommen wollte.
Das Nervige war, dass Kerstin sich oft verpflichtet fühlte, die Unterhaltung, den Chat, aufrechtzuerhalten, obwohl sie schon keine Lust mehr auf das Gespräch hatte. Weil es sie langweilte. Doch nach und nach fasste sie den Mut zu Ausflüchten, selbstverständlich welche, die den Gesprächspartner nicht kränkten: „Tut mir leid, hab keine Zeit mehr.“ „O weh, ich muss dringend mit dem Kochen beginnen.“ „Eben hat es geklingelt, meine Freundin wollte kommen.“
Auch Absagen erteilen, musste Kerstin lernen – oft schweren Herzens. Zugegeben, bei manchen, den Großkotzigen, genoss sie es, sie aus der sicheren Distanz loszuwerden. Bei den Netten, Bescheidenen, den vermutlich im Umgang Liebevollen war das sehr schwer.
So bekam sie von einem etwa Gleichaltrigen eine Einladung zum Kaffee. Er erzählte auch gleich, dass er einen Obsthof betreibe, gemeinsam mit seiner Tochter. Dass er sie sympathisch fände. – Aber das Foto von ihm: Es zeigte einen nicht sehr großen Mann von der Brust aufwärts, mit hellen Haaren, rötlichem Gesicht. Letzteres konnte auch an der schlechten Qualität des Fotos liegen. Der Mann war untersetzt, lächelte unbeholfen in die Kamera. Er hatte ein rundes Gesicht, sah von Grund auf solide aus. Ein Mann, der sie an ihren Vater oder die Generation ihrer Eltern erinnerte, obwohl er vermutlich jünger war als sie. Er war ein herzensguter Mensch. Das sah man. Und das brachte Kerstin in Verlegenheit. Sie überlegte, was sie schreiben sollte. Auf der einen Seite wäre sie froh, mal wieder ein Date zu haben, einen Mann zu treffen. Auf der anderen Seite hatte sie Angst davor, ihn zu enttäuschen. Nicht Angst, dass er heftig reagierte. Nein. Sie enttäuschte Menschen, gutmütige Menschen, ganz einfach ungern. Sie fühlte mit, hatte dabei mutmaßlich stärkere Gefühle als der Betreffende. Also würde sie die Einladung ablehnen, obwohl auch sie gerne, wie gesagt, einen netten Menschen getroffen hätte. Doch nach einem Treffen wäre seine Enttäuschung noch größer gewesen, vermutete sie. Kerstin hätte sich noch schlechter gefühlt – und sich gewunden bei einer Absage.
Sie formulierte so liebevoll wie möglich:
„Ich freue mich sehr über die freundliche Post von dir. Auch darüber, dass du mich gerne treffen möchtest. Doch sei mit bitte nicht böse, ich sehe da nicht so viele Gemeinsamkeiten. Dir und deiner Tochter wünsche ich für die Zukunft alles Liebe ...“
Zwei Tage später hatte sie Post von ihm. Sie wurde über Nachrichten im Portal ja immer per E-Mail unterrichtet. Vier Tage hatte sie nicht den Mut ins Portal zu gehen, um zu schauen, was er geschrieben hatte. Sie erwartete von Ablehnung über Beschimpfung bis zu Kränkung alles Negative, was ihr schlechtes Gewissen ihr eingab.
Dann überwand sie sich. Und ein großer Stein fiel ihr vom Herzen. Er hatte verständnisvoll reagiert und sich sogar noch für ihre Nachricht und ihre freundlichen Worte bedankt.
Das war es nicht, was Kerstin durch den Kopf ging, als sie das lokale Einkaufszentrum durchquerte: Ihre Gedanken kreisten um das Abendessen. Fisch oder Hähnchen? Salat auf jeden Fall. Zucchini oder Kohlrabi? – Auf einmal hatte sie das Gefühl, dass jemand sie ansah. Sie drehte den Kopf langsam in diese Richtung. In einiger Entfernung, vielleicht zehn, fünfzehn Meter weit weg, erblickte sie einen Mann; weißes Hemd, dunkle Hose, graumeliertes Haar. Als er ihren Blick wahrnahm, drehte er den Kopf zur anderen Seite. O ja, schoss ihr durch den Kopf, das war Soulman. Was tun? Er hatte wohl gesehen oder geahnt, dass sie es war, sie erkannt, als sie ihn ansah – und hatte sich weggedreht. War er unsicher, ob sie es ist? Oder zu zurückhaltend, ängstlich, unlustig? Sollte sie ihn ansprechen? Kerstin überlegte.
Da kam ihr der Zufall zur Hilfe. Aus einer Gruppe von Jugendlichen, die sehr eilig unterwegs waren, rempelte ein Junge den Fremden von hinten an. Daher drehte er sich wieder um – in Kerstins Richtung. Nun kam er nicht umhin, sie anzuschauen. Kerstin lächelte ihn an. Er lächelte zurück. Kerstin blieb stehen. Und er kam auf sie zu.
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