„Warte,“ Raven löste seinen dicken, schweren Gürtel von seiner Taille, „du wirst dich in der Luft sonst nicht lange halten können. Dafür ist es zu kalt, und ich muss meine Hände freibehalten. Möchtest du nach oben sehen oder die Landschaft betrachten?“
Er sah sie hoffend und abwartend an. Sie überlegte nur kurz und trat dann so auf ihn zu, das sie sich gegenüberstanden.
„Gut,“ meinte er, ging freudig in die Knie und band sie mit dem Gürtel fest an sich. Ihre Nähe, ihr Geruch, sie machte ihn nervös und er versuchte, sich auf den bevorstehenden Flug zu konzentrieren. Als er sich wiederaufrichtete, hing sie, wie seine Taschen auch, fest an ihm verschnürt und er ging zum Rand des Plateaus.
„Halte dich fest und habe Vertrauen,“ flüsterte er ihr zu, jetzt ihre Angst fühlend, breitete danach seine großen, ledernen Schwingen aus und stürzte sich dann mit ihr in die Tiefe. Er fing sich mühelos ab, sie wog fast nichts, und rauschte mit ihr erst segelnd über die Wipfel der schneebedeckten Bäume, um danach mit mächtigen Flügelschlägen langsam an Höhe zu gewinnen. Sie klammerte sich ängstlich zitternd an ihn, und er fürchtete dadurch schon um seine Fassung.
„Sieh mich an, kleine Fee.“ Langsam hob sie den Kopf und öffnete die Augen.
„Es wird dir nichts passieren, das verspreche ich dir, aber bitte, klammere dich nicht so fest.“ Daraufhin entspannte sie sich ein wenig und auch Raven ging es nun etwas besser, obwohl ihr Zauber ihn immer weiter gefangen nahm. Um sich etwas von ihr abzulenken, hielt er den Blick stur nach unten, um nach Leuten, Häusern oder Vieh Ausschau zu halten, denn irgendwo her musste sie schließlich kommen. Doch nichts dergleichen bekam er zu sehen, und gegen Mittag gab es er auf.
Die schneebedeckte Landschaft unter ihnen war Atemberaubend, doch nichts deutete auf Menschen oder anderes Leben hin, außer einigen mageren Rehen, von denen er eines im Flug packte und schnell in der Luft tötete. Sie flogen den ganzen Tag hindurch, und er begann am Nachmittag wieder nach einem Lagerplatz für die Nacht zu suchen und fand später eine kleine Lichtung im Wald. Keine Höhle, aber besser als nichts. Raven landete sehr vorsichtig da sie jetzt schon seid geraumer Zeit fest schlief. Er legte sie sanft zu Boden und bereitete so schnell er konnte das Lager, um sie dann in die wärmenden Felle zu betten. Sie schlief unter seinem wachen Blick bis zum Abend und als sie dann erwachte, brannte ein Feuer und darüber hing das magere Reh. Er saß am Feuer und schnitzte, als sie sich schlaftrunken die Augen rieb. Erfreut blickte er sie an.
„Du hast lange geschlafen, kleine Fee, bist du hungrig?“ Sie gähnte, streckte sich ausgiebig und nickte ihm danach immer noch etwas müde zu.
„Das ist gut, denn dieser prächtige Braten wäre für einen allein sowieso viel zuviel,“ meinte er grinsend und sie lächelte verschlafen zurück. Er erhob sich, ging zum Feuer und gab ihr danach ein großes Stück vom Reh. Sie aßen schweigend, und er fühlte sich seid sehr langer Zeit wieder wohl. Normalerweise banden sich die Männer seines Volkes nicht an eine Frau. Aber ja, sie hatten Frauen, und wo immer sich die Gelegenheit bot, teilten sie mit ihnen die Wonnen, was bei Menschenweibern oft deren Tot zur Folge hatte. Sein Volk war in vielerlei Beziehung mächtig und einige waren dieser Macht eben nicht Gewachsen, was bedauerlich war, sich aber nicht ändern ließ. Doch sie übte eine besondere Faszination auf ihn aus, und er war neugierig, ob es nur ihm so ging oder auch andere Männer seines Volkes betreffen konnte.
Sie war so klein, so jung und wunderschön. Er unterdrückte nur mit Mühe den Drang sie zu berühren und schwor sich, so lange zu warten, bis sie auf ihn zukommen würde. Doch es würde hart werden, das wusste er. Nach dem gemeinsamen Mahl reinigte sie ihre Hände mit Schnee und begann danach ihren, jetzt unordentlichen Zopf zu lösen und einige Kletten im langen Haar zu entwirren. Er erhob sich, ging ums Feuer und reichte ihr seine Schnitzerei.
„Hier, kleine Fee, bis du einen neuen hast wird dieser es auch tun.“ Damit reichte er ihr einen kleinen Holzkamm, an dem er schon den ganzen Nachmittag lang gearbeitet hatte. Erstaunt sah sie zu ihm auf, nahm ihm den Kamm dann auch aus der Hand, aber betrachtete ihn danach nur fragend. Schließlich legte sie ihn in ihren Schoß und bearbeitete ihr langes Haar weiter mit den Händen. Raven sah sie völlig verblüfft an und so langsam dämmerte ihm, in was er da hineingeraten war. Sie kannte keinen Kamm? Jede Frau, absolut jede, egal ob stolze Königin oder arme Bäuerin, ob Elfenprinzessin oder Zwergin nannte einen Kamm ihren Besitz. Wenn sie die Funktion eines solchen nicht kannte, hatte sie nie unter Menschen oder anderen Völkern gelebt. Er beugte sich herunter, nahm ihr den Kamm aus dem Schoß, setzte sich hinter sie und begann vorsichtig ihr langes, schönes Haar zu kämmen. Zuerst zappelte sie dabei ein wenig herum, doch als er mit ihr sprach, beruhigte sie sich und saß dann still.
„Du hast schönes Haar, kleine Fee, und um es zu pflegen habe ich dir diesen Kamm gemacht. Du kennst keine Kämme, das heißt, du kennst auch die anderen Dinge der Völker nicht. Keine Häuser, keine Städte, keine Länder. Gut, die dreckigen Orte der Menschen muss man auch nicht kennen. Aber es gibt auch sehr schöne Dinge, unsere Schlösser zum Beispiel sind so schön wie du. Oder Schmuck, oder schöne Kleider, oh es gibt so viel, was ich dir zeigen könnte. Aber ich habe die Vermutung, dass du ein Wolfskind bist, du mich darum nicht richtig verstehen kannst..........“
Wütend warf sie sich plötzlich herum und überraschte Raven mit ihrem Angriff total. Sie sprang ihn an und durch die Wucht wurden beide nach hinten geworfen. Sie landete auf ihm und bearbeitete fast augenblicklich seinen Oberkörper mit ihren kleinen Fäusten. Raven, noch immer vom plötzlichen Angriff verwirrt, brauchte etwas Zeit um ihre Arme zufassen zu kriegen, doch dann hielt er mit eiserner Kraft fest.
„Gut, es ist gut,“ rief er sie an, „hörst du mich, es tut mir leid.“
Ihr Wutanfall ließ langsam nach und er lockerte augenblicklich seinen festen Griff.
„Beruhige dich, bitte, es tut mir leid, ich wollte dich nicht verletzen, glaub mir, ich wollte dir nicht weh tun.“ Er sah in ihre, vor Tränen schimmernden Augen, ließ einen ihrer Arme los und streichelte ihr dann nur kurz, aber zärtlich über die erhitze Wange.
„Du verstehst alles, was ich sage, richtig?“ Sie nickte und ihre Tränen liefen jetzt.
„Was bin ich für ein Narr, bei den Göttern, was für ein Narr. Ich habe noch niemals im Leben ein Wesen wie dich getroffen und ich weiß absolut nichts von dir......... es tut mir leid....... Bitte, kleine Fee, verzeihst du mir?“ Sie ließ sich Zeit, doch dann nickte wieder und ihn durchströmte ein so starkes Gefühl für sie, das er sie in seine Arme zog, sich mit ihr zurücksinken ließ und sie einfach nur festhielt. Er bemerkte mit Verwunderung, das er dabei war sich zu verändern. Was berührte dieses kleine Ding in ihm, zumal nach so kurzer Zeit, dass er sich für etwas Gesagtes Entschuldigte. Er, Raven, einer der Könige der Lüfte und Herrscher seines großen, fernen Reiches wurde beherrscht von diesem kleinen Mädchen. Und doch, merkte er, es gefiel ihm.
Diese Gefühle, die er jetzt empfand, waren ihm zwar fremd, aber er genoss sie dennoch. Noch nie hatte er so für ein Wesen gefühlt. Noch niemals etwas wie sie erblickt. Er streichelte über ihr jetzt gekämmtes Haar und fühlte seine Weichheit, spürte ihr Gewicht, ihre Wärme auf seinem Körper und die dadurch beginnende Hitze in seinen Lenden. Doch er wollte diesen Moment nicht von seinen Treiben stören lassen und unterdrückte diese rasch.
„Wer bist du, kleine Fee,“ flüsterte er sanft, „wer bist du bloß.“
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