1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Oberst Tarabas vollzieht eine echte Bekehrung vom gewalttätigen Autokraten zum reuigen Sünder und stirbt friedlich als Mönch, der strenge Beamte Eibschütz gewinnt durch späte Liebe verlorene Menschlichkeit zurück.
Roth verdeutlicht seinen veränderten Standpunkt im Essay Der Antichrist (1934) , der eine Schlüsselfunktion besitzt. Moralische Überzeugungen genügen nicht für die härtesten Prüfungen; seine Anklage des Antisemitismus, Migrationsdruck, Assimilationszwang und Duldungspolitik treten in den Hintergrund. Roth sucht liebevoll im Individuum nach Verständnis für das kollektive Scheitern. Geschichte dient als Prüfstein und Anstoß zur Läuterung. Der Antichrist weist humanitären Katastrophen einen klaren biblischen Bezug der Katharsis zu. Roth sucht nach falsch verlaufenen Revolutionen Trost und Hoffnung im religiös irrationalen Bekenntnis zur Monarchie. „ Ist das noch Heimat? War ich nicht nur deshalb heimisch in diesem Ort, weil er einem Herrn gehörte, dem ebensoviele unzählige andersartige Örter gehörten, die ich liebte? Kein Zweifel! Die unnatürliche Laune der Weltgeschichte hat auch meine private Freude an dem, was ich Heimat nannte, zerstört. Jetzt sprechen sie ringsum und allerorten vom neuen Vaterland. In ihren Augen bin ich ein sogenannter Vaterlandsloser. Ich bin es immer gewesen. Ach!“ Es gab einmal ein Vaterland, ein echtes, nämlich für die Vaterlandlosen, das einzig mögliche Vaterland. Das war die alte Monarchie. Nun bin ich ein Heimatloser, der die wahre Heimat der ewigen Wanderer verloren hat.“44
Roth glaubt nicht an Gottes Allmacht, seine Gerechtigkeit und eschatologisches Heil. Er hält es jetzt für eine dienliche Notwendigkeit, an das Gute im Menschen und auch in sich selbst zu glauben. Daran, dass es für alle eine Heimat geben muss, wenn nicht auf der Erde, so doch im Herzen, das er einen blinden Spiegel heißt. Was seinen Spätwerk in zunehmenden Maße anhaftet, ist die Aufarbeitung der Habsburger Monarchie durch Fatalismus und Dekadenz. Untrennbar von Roths religiösem Bekenntnis sehen viele Kritiker sein nostalgisches Heimweh zur untergegangenen Dynastie als Flucht in die Mystik.
Über sein berühmtestes Werk sagt der Autor: „Ich habe die merkwürdige Familie der Trottas, von denen ich in meinem Buch Radetzkymarsch berichten will, gekannt und geliebt, die Spartaner unter den Österreichern. An ihrem Aufstieg, an ihrem Untergang glaube ich den Willen jener unheimlichen Macht erkennen zu dürfen, die am Schicksal eines Geschlechts dasjenige einer historischen Gewalt deutet."
Der Roman enthält mystische Momente wie den Duft von Reseda, doch er liefert eine klare Bestandsanalyse und ohne Theorie auch Gründe für den Untergang. Er bewegt sich zwischen Mechanismen einer Chronik und Beteiligung eines Betroffenen. In dem Scheitern Trottas liegt auch Unfähigkeit zu einem neuem Leben außerhalb dem Vielvölkerreich Österreich-Ungarn.
Die folgenden Romane Das falsche Gewicht, Die Kapuzinergruft, Die Geschichte von der 1002. Nacht zeigen unmissverständlich auf, warum die charmante, aber morbide Habsburger Monarchie untergehen musste: Sie war zersetzt von Doppelmoral und Scheinheiligkeit, einer Lähmung und Paralyse, die charakteristisch für jede Form von kultureller Agonie ist.
Roth stilisiert den traditionsbeewussten Chronisten, der retardiv, nostalgisch und restaurierend die Schönheit des Verblassens und den Charme der Dekadenz besingt. Wiener Impressionismus, das sind Sittengemälde durch pointierte Beobachtung, Bonmots und Anekdoten. Das ist Caféhausliteratur, ein wenig Märchen, Rauch und Fantasie, ohne im Klischee zu erstarren. Die Trottas dieser Welt, tragen sie auch andere Namen, stehen wie ausgehöhlt und brüchig vor und an den Gräbern. Das religiöse Fundament der Habsburger Gesellschaft ist mit dem Kaiser, den alle kannten und wertschätzen, erloschen, die Auflösung beschlossene Sache. Auf die Erosion folgt: Nichts.
Folgerichtig lässt Roth seine Anti-Helden Trotta, Eibenschütz und Taittinger sehenden Auges willentlich untergehen wie das System, aus dem sie stammen und von dem sie sich niemals lösen können. Neben der süßlich - morbiden Dekadenz, die tanzend und singend zugrunde gehen muss, bergen die k .u. k. Romane den unerfüllbaren Wunsch, die versunkene Heimat als heile Idealwelt mittels literarischer Erinnerung zurück zu erlangen, wie der eingangs zitierte Satz dokumentiert: „Es war eine kalte Sonne, aber es war (m)eine Sonne.“
Neue Sachlichkeit
Die Werke Roths einer bestimmten Richtung oder Gruppierung der zeitgenössischen Literatur wie dem Existentialismus oder Symbolismus zuzuordnen, fällt schwer. Am ehesten noch verbindet man ihn mit der Richtung Realismus der Neuen Sachlichkeit, und diese Zuordnung mag vor allem für seine frühen Romane auch zutreffend sein. So trägt Flucht ohne Ende nicht nur den Untertitel Ein Bericht, im Vorwort versichert der Autor auch: „Ich habe nichts erfunden, nichts komponiert.“ Fakten, Auswertung und das Objektive an die Stelle subjektiver Empfindung zu setzen, charakterisieren diesen Stil.
Allerdings auch Schnörkellosigkeit, bewusster Verzicht des Dekorativen und dies kann einem Poeten nur prosaisch anmuten. So distanziert sich Roth 1930 in seinem Essay „Schluß mit der „Neuen Sachlichkeit“ ( erstmals publiziert in der Literarischen Welt ) ; unmissverständlich erteilt er dieser kühlen literarischen Richtung eine Absage. Kalt an sich muss nicht literarisch sein, wie Flaubert paradigmatisch exemplifiziert. Auch schließt Beobachtung Sentimentalität nicht aus.
Roth kritisiert von einem journalistischen Standpunkt aus die Unförmigkeit einer Literatur, die sich auf nackte Tatsachen beschränken will, indem er der Zeugenaussage den (geformten) Bericht gegenüberstellt: „Das Faktum und das Detail sind der Inhalt der Zeugenaussage. Sie sind das Rohmaterial des Berichts. Das Ereignis „wiederzugeben“, vermag erst der geformte, also künstlerische Ausdruck, in dem das Rohmaterial enthalten ist wie Erz im Stahl, wie Quecksilber im Spiegel.“ 45
Roth wirft den Autoren der Neuen Sachlichkeit vor, die Erwartung des naiven Lesers zu ignorieren: „Der primitive Leser will entweder ganz in der Wirklichkeit bleiben oder ganz aus ihr fliehen“. Damit rechtfertigt er seine Vorliebe für das subjektiv Authentische des Augenzeugen. Nackte Zahlen lernt man aus dem Geschichtsbuch, Mitgefühl nur aus dem Erleben. Der Journalist weiß um die Problematik der Objektivität, die Arbeit, aus Einzelaussagen einen neutralen Bericht zu formen: „Erst das „Kunstwerk ist echt wie das Leben … Der Erzähler ist ein Beobachter und ein Sachverständiger. Sein Werk ist niemals von der Realität gelöst, sondern in Wahrheit (durch das Mittel der Sprache) umgewandelte Realität.“
Die frühesten Erzählungen bzw. Novellen Roths entstehen unmittelbar vor dem Krieg, Der Vorzugsschüler (November1916 im Wiener Blatt erstmals publiziert) oder danach Barbara (April 1918 im Wiener Blatt). Sie enden jeweils mit dem Tod ihres angepassten Protagonisten, der im Leben dem Glück hinterherläuft und durch eine Lebenslüge sich selbst verleugnet. Auch die dritte Erzählung April. Die Geschichte einer Liebe (1925, Berlin, Dietz Verlag), in der sich ein Dichter um eine mögliche Liebe bringt, finden hier keine Berücksichtigung.
2. 1. 1. Entstehung, Inhalt
Der blinde Spiegel , in 19 Kapitel unterteilt, erscheint 1925 in Berlin bei Johann Heinrich Wilhelm Dietz in Berlin, der nach dem Tod des Herausgebers gerade mit der Zeitschrift Vorwärts fusioniert. Der etablierte Verlag publiziert sozialistische Autoren wie Mehring, Marx/Engels, Lassalle und Kautsky. Roth schiebt seine Prosa zwischen journalistische Reiseberichte (sein Broterwerb) ein. Nach Barbara wählt Roth in Fini eine weibliche Hauptfigur zur wehrlosen Protagonistin seiner Auseinandersetzung mit einer bedrohlichen und gewalttätigen Gesellschaft. Sprachlich vollzieht sich das auf der Basis von neoromantischer Prosalyrik, deren Zärtlichkeit des Tonfalls mit trostlose desillusionierendem Inhalt kontrastiert.
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