An Ampeln, an denen ich hielt, lugten die Menschen unter ihren Regenschirmen hervor und warfen Blicke auf meine Süße, aber das war ich gewohnt. Männlein wie Weiblein schauten immer, wenn wir vorfuhren, meistens allerdings mit Argwohn.
Polizeipräsidium Keibelstraße
Diese Stadt ist der Inbegriff der Farbe Grau. Ernsthaft schlagen Sie es nach: Grau = Ostberlin. Und an Tagen wie diesen, im November, müssen Sie Grau schon wirklich mögen, um nicht in unmittelbare oder posttraumatische Depressionen zu verfallen. Hab mich schon oft gefragt, ob das wohl so gewollt war, alles schön grau halten. Grau und funktionell, dann kommste auch nicht auf doofe Gedanken.
Vielleicht steht´s ja aber auch in irgendeinem Nebensatz von Engels oder Marx: Lasst es grau sein!
Oder so ähnlich.
Während ich meinen Wagen quer durch Berlin steuerte und mich an den freien weiten Straßen erfreute, war die Stadt wie ausgestorben. Die meisten Einwohner lagen sicher noch mit einem angemessenen Kater im Bett. Schon seit ein paar Wochen war der übliche Alltag ins Wanken geraten, und mit jedem Montag wurde es chaotischer. Doch nun, seit zwei Tagen, nach dem großen Fall, war unsere Welt vollends aus den Angeln gehoben und es schienen keine Automatismen mehr zu greifen. Die einen feierten und die anderen diskutierten. Bei Weitem nicht alle freuten sich, einige hatten auch etwas zu verlieren. Und an diesem Morgen lag die Stadt lahm und ich war gespannt, wann wieder Normalität eintreten würde. Wobei, wahrscheinlicher war, dass es damit vorbei ist und unsere Normalität nie wieder sein würde.
Ich parkte meinen schwarzen Schatz auf dem Parkplatz vor dem Revier. Stieg aus, verschloss sie und streichelte ihr beim Vorbeigehen sanft über den Kotflügel. Hätte ich gewusst, dass dies für lange Zeit unser letzter gemeinsamer Moment sein sollte, wäre ich auf die Knie gegangen, hätte sie umarmt und gebeten, sie solle gut auf sich achtgeben.
Ich betrat das Gebäude durch den Haupteingang. Grüßte kurz die Wachhabenden, stieg in den Aufzug ein und im vierten Stock wieder aus. Der Flur vor mir spaltete sich in zwei Richtungen, einmal links und einmal rechts. Beide beleuchtet von kaltem Licht aus standardisierten halbrunden, länglichen Neonlampen, kein Tageslicht. Die Flurwände waren mit Holzvertäfelungen beschlagen und auf dem Boden lag ein grüner, kurzer Teppich.
Ich wählte den rechten.
Zu beiden Seiten waren Büros angeordnet, rechts mit Blick auf die Keibelstraße und das ansässige Untersuchungsgefängnis, links mit Blick auf die zugehörigen Parkplätze auf der Hans-Beimler-Straße.
Das Gebäude an sich war ein langer, sechsstöckiger, rechteckiger Kubus, schlicht und monumental. Sozialistischer Klassizismus. Oder, richtigerweise, Eisenbetonskelettbau. Muss ich mehr sagen?
Es war kalt, hässlich und einfallslos funktionell.
Ich lief den Gang entlang in Richtung meines Büros. Vorbei an endlosen Türen, manche geöffnet, die meisten jedoch geschlossen.
Mehr noch geschlossen als die letzten Wochen. Die Revolution legte auch unseren Laden lahm. Und rückblickend auf die Ereignisse der letzten Wochen und der damit zusammenhängenden Untaten, die hier in diesem Gebäude Bruder und Schwester zuletzt angetan wurden, war es nur allzu verständlich, dass viele es nicht mehr mit sich einen konnten, im Moment hierherzukommen. Und ob es nun Angst vor den möglichen zukünftigen Konsequenzen war, die meine Kollegen fernhielt, oder Zweifel, konnte ich nicht sagen und es änderte auch nichts an der Tatsache, dass das Gebäude erschreckend leer war und mir das gar nicht gefiel.
Oberst Karl Steinhoff
Drei Abteilungen waren in dem Geschoss untergebracht, ein Teil der Verkehrspolizei, Kriminalpolizei und wir vom MUK.
Insgesamt acht zuständige Mitarbeiter inklusive einer Stenosachbearbeiterin zählte unsere glorreiche Truppe.
Unsere Büros lagen am Ende des Ganges und meines war das letzte hiervon. Ein Eckbüro mit Blick auf den Alexanderplatz. Absoluter Hauptgewinn.
In den letzten vier Büros rechts und links vor meinem saß normalerweise der Rest der Kollegen.
Im ersten Büro links arbeitete Melanie Schober, besagte Stenosachbearbeiterin.
Rechts gegenüber Helmut Krug, Kriminaltechniker.
In den nächsten zwei Büros vier weitere Mitarbeiter, die sich zu zweit ein Büro teilten, und dann, wie gesagt, meines am Ende.
Ich schaute im Vorbeigehen in jedes einzelne Büro und erntete gähnende Leere. Das war jetzt schon seit Tagen so. Nicht mal die Schober war da, die eigentlich immer da war, was verdammt frustrierte.
Ich betrat mein schmales Büro, schmiss die Lederjacke an den Kleiderständer und ließ mich in den weich gefederten Drehstuhl fallen. Der Schreibtisch vor mir, aus hellem Hartholz, quoll über von Akten, Papieren, einer Schreibmaschine und dem beigen Telefonklotz mit Drehwählscheibe. Ein Holzregal stand an der gegenüberliegenden Wand und bog sich bis aufs Äußerste gespannt unter Büchern und weiteren Aktenordnern. Hinter mir hing als einziges Bild im Raum, in feinem Holzrahmen, das Konterfei des Genossenbosses Honecker.
Kaum dass ich saß, ließ der erste Koffein-Zucker-Aufpäppler von zu Hause bereits nach und die verlorenen Nächte forderten ihren Tribut. Ich sackte in mich zusammen und fühlte mich furchtbar alt und erschöpft. Verdrängen hilft ja eine Weile, aber eben nicht ewig. Entschloss mich aber weiter fürs Verdrängen. Öffnete die Schreibtischschublade, nahm mir zwei weitere Titretta, ein Glas und eine Flasche Wodka heraus. Schmiss die Titretta in den Mund und zerkaute sie. Der bittere Geschmack brachte mich zum Würgen, aber die Tabletten wirkten schneller so und irgendwie hatte ich diese leichte Geißelung auch verdient. Füllte das Glas bis zum Rand voll mit Wodka und spülte die Arznei runter. Dann stand ich auf, schlenderte ans Fenster und schaute rechts hinüber auf den sich ausbreitenden Alexanderplatz.
Feiner Nieselregen bedeckte den Platz mit einer dünnen Schicht Wasser und ließ ihn aussehen wie einen riesigen Spiegel, vereinzelt durchzogen von schwarzen Regenschirmen, die scheinbar selbständig über den Platz zu schweben schienen.
Der Regen traf im leichten Winkel auf mein Fenster, sammelte sich dort zu kleinen Tropfen und perlte dann in langen Streifen ab.
Ich schaute den schmalen Rinnsalen zu und wurde verdammt schwermütig. Es sollte noch ein paar Tage so regnerisch bleiben, hatten sie im Radio gesagt. In der Nacht zuvor hatte es einen Temperatursturz gegeben. Innerhalb kurzer Zeit waren die Temperaturen um fast fünfzehn Grad gesunken. Die Luft kühlte sich schnell ab, aber der Boden brauchte etwas länger, so bildeten sich Nebelschwaden, die noch immer durch die Straßen zogen wie herrenlose Schäferhunde auf der Suche nach Abwechslung.
Oh, Mann, jetzt analysiere ich schon das Wetter, dachte ich gerade, als das Telefon klingelte.
Ich wollte es ignorieren, wirklich. Fühlte mich gerade so richtig schön mollig warm eingepackt in meiner Melancholie und hätte noch Stunden am Fenster stehen und rausschauen können, doch das schrille Läuten überstrapazierte meine Nerven unmittelbar, also lief ich zurück zum Schreibtisch, hob ab und trällerte: „Jawoll!“
Die Stimme am anderen Ende sagte: „Mulder, sind Sie das?“
Hauptmann Sacher, mein Boss.
„Jawoll“, wiederholte ich.
„Warum dauert das so lange?“
„`tschuldigung, war grad beschäftigt, der Regen zeichnet so wunderschöne Formen auf mein Fenster und …“
„Kommen Sie in mein Büro, sofort!“ Und legte auf.
Ihnen auch einen schönen guten Morgen , wollte ich nachschieben, aber die Leitung war bereits tot.
Jemand hat mal geschrieben: „Man kann immer nett zu jenen sein, die uns nichts angehen .“ Ich lächelte, schüttete mir noch mal von dem Klaren ein, stellte die Flasche zurück in die Schublade und leerte den Magenwärmer in einem Zug. Dachte kurz über ein paar Amfis nach, die Aponeuron-Packung lächelte mich schief unter einem Stapel Papieren an. Verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Es war besser, halbwegs nüchtern beim Chef anzutanzen. Könnte wichtig sein und da wollte ich nicht wie ein Wackeldackel auf dem Armaturenbrett eines Rallyewagens erscheinen und irgendwas verpassen.
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