Ich folge ihr jetzt seit drei Tagen. Wir laufen ununterbrochen, ohne zu schlafen, ohne zu essen, reden kaum miteinander. Machen nur Pausen, damit sie Adam mit ihren leuchtenden Händen berühren kann. Und ich schwör´s. Immer wenn sie das tut, atmet er tiefer, weicht die Blässe seiner Gesichtsfarbe einem zarten Rosa und ich habe sogar den Eindruck, dass er zugenommen hat - im Gegensatz zu mir.
Ich fühle mich auf geheimnisvolle Weise mit Hope verbunden. Wie eine Freundin, eine Seelenverwandte aus einem vergangenen Leben. Der Wald ist immer noch bei uns, umgibt uns.
Wir trinken aus Quellen, die aus dem Berg fließen. Das Herz des Berges scheint aus Wasser, anstatt aus Stein zu bestehen. Seine Abgründe und der Wald, der seine Hänge besiedelt, schützen uns. Solange wir im Wald bleiben, sind wir nicht allein. Ich folge Hope, weil ich tief in mir spüre, dass es richtig ist. An welches Ziel mich dieser Weg führt, weiß ich nicht. Aber ich bin mir ganz sicher, dass der Weg ein Teil des Ziels ist und die Richtung stimmt. Wenn Hope spricht, dann von der Gegend und der Symbiose. Und ich liebe es, ihr zu lauschen, auch wenn sie kein Wort mehr über die Prophezeiung verloren hat.
Mit ihrer Hilfe habe ich eine Technik (so eine Art Tanz mit der Natur) erlernt, die mir hilft, wach zu bleiben und mich einigermaßen satt zu fühlen. Es ist so ähnlich wie das, was sie mit Adam anstellt. Aber der Tanz macht mich nicht nur satt, er schärft auch meine Wahrnehmung (oder fantasiere ich doch schon?). Im Vergleich zu noch vor zwei Tagen sind meine Sinne jetzt scharf wie Rasierklingen.
»Was schreibst du da?«, fragt Hope.
»Ein Tagebuch. Mein zweites Gedächtnis! Hope, wie schaffst du es, deine Fähigkeiten zu beherrschen? Ich will das auch können!«, sage ich.
»Ich kann´s halt. Sagen, wie es geht, kann ich dir nicht. Aber ich könnte dir sagen, wie ich es gelernt habe.« Hope sitzt auf einem Baumstumpf (morsche Überreste).
»Und?«
Hope kratzt sich am Knie. »Was?«
»Ja, fängst du jetzt endlich an zu erzählen! Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.«
»Hast du schon einmal Wölfe beobachtet?«, sagt sie jetzt irgendwie belanglos und legt sich eine schwarze Strähne hinters Ohr.
»Was?«
»Wölfe? Schnauze, Haare und Schwanz. Heulen den Vollmond an!«
»Hope, jetzt mal im Ernst. Wie hast du es gelernt, die Kräfte in dir zu beschwören?«
»Bestien sind wie die Wölfe. Sie kommen in Rudeln und ein Rudel hat immer einen Anführer. Du musst den Wölfen zeigen, wer der Anführer ist.«
»Aha!?«
Hope kommt mir näher und tätschelt meinen Bauch. »Also wir setzen dich jetzt auf Diät. Ist zwar nicht so viel an dir dran, aber du wirst es schon überleben. Die Bestien sind Astralwesen, deshalb können die Nunbones sie nicht sehen. Aber wir können es. Frag jetzt nicht warum. Ich habe nämlich keine Antwort. Wir sind eben anders. Naja, auf jeden Fall besteht in der Astralwelt alles aus Energie und die Energie der Bestien, die du besiegt hast, ist auch in dir und du kannst ihre Energie anzapfen. Aber nur wenn du der Rudelführer bist, der Alpha-Wolf. Hast du das verstanden?«
»Ja, ich bin ja nicht taub. Und wenn nicht?«
Hope grinst mich an. »Dann machen die Bestien in dir, was sie wollen. Zum Beispiel Adam die Kehle aufschlitzen und Blut saufen.«
»Und wenn ich zu viel davon abbekomme, dann verwandle ich mich in etwas Böses?«
»Stimmt genau. Also, wir setzen dich auf Diät. Dann bekommen die Biester in dir so richtigen Hunger und wenn sie fressen wollen, dann musst du einfach der Alpha-Wolf sein. Kapiert?«
»Und wenn ich das nicht schaffe?«
Hope steht auf und senkt ihren Kopf, bis sich ihre Lippen direkt neben meinem Ohr befinden. »Dann töte ich dich!«
»Was!?«
Sie lacht. »Kleiner Scherz. Nur wenn du mir an die Kehle willst, dann töte ich dich.«
»Hört sich fair an!«, sage ich. »Warum hat dich Adam vor den Vollstreckern beschützt?«
Hope stiefelt schon davon, ein eindeutiges Zeichen, dass die Pause vorbei ist. »Kann ich dir nicht sagen. Frag ihn selbst, wenn er aufwacht.«
»Wird er wieder aufwachen?«
»Wenn er Glück hat.«
Tag 18: Wir befinden uns dicht an der Sektionsgrenze, folgen ihr immer weiter nordwärts. Hope hat mir gestanden, dass sie die Grenze nur überschreitet, wenn es unbedingt erforderlich ist. Es ist zu gefährlich, die Bestien, die dort herumstreifen, sind wild und gefährlich.
Ich bin müde. Habe heute eine Stunde geruht. Schlafen kann man es nicht nennen. Hope hat mich wieder unterwiesen, wie ich mich bewegen, mit der Natur tanzen muss, damit ich Kontakt zu der Energie meiner Tattoos aufnehmen kann. Sie ist wie eine Maschine. Sie sieht aus, als wäre sie ausgeschlafen und frisch geduscht. Ich bin das Gegenteil. Völlig am Ende. Hope meint, das liegt daran, dass ich noch kein Alpha-Wolf bin. Sie meint, ich werde das schon noch schaffen. Adam ist immer noch nicht aufgewacht.
Tag 19: Ich weiß nicht, wo Hope die Kraft hernimmt? Haben wieder nicht geschlafen. Sind nur gelaufen. Richtung Norden. Immer Richtung Norden. Der Wald wird lichter. Wir steigen immer höher hinauf. Hope sieht so frisch aus, wie am ersten Tag. Adam lebt, aber er ist nicht bei Bewusstsein. Hope meint, dass das noch lange so bleiben könnte. Ich habe ihn böse zugerichtet. Ich fühle mich schrecklich, nicht nur wegen der Sache mit Adam. Auch, weil ich seit Tagen nicht geschlafen habe. Nicht gegessen habe. Ich will mich nicht im Spiegel sehen. Ich kann Adam nicht mehr tragen. Hope hat das jetzt übernommen. Wo nimmt sie nur die Kraft her? Woher nehme ich die Kraft her? Ich bin kein Mensch mehr. Definitiv nicht.
Tag 20: Kann keinen Schritt mehr machen. Brauche immer mehr Pausen. Bin am Ende. Habe Hunger und so weiter.
»Hör auf, in das Buch zu schreiben! Wir müssen weiter«, sagt Hope. Ich schaue sie an. Sehe sie verschwommen. Doppelt.
»Kann nicht mehr«, quälen sich die Worte über meine aufgesprungenen Lippen.
»Du musst!«
»Geht nicht.«
»Du musst aber!«
»Ich will schlafen.«
»Reiß dich gefälligst zusammen.«
»Was?«, röchle ich. »Was habe ich zu verlieren?«
Hope macht einen Schritt auf mich zu. »Das Band zwischen dir und den Bestien. Einer wird es kontrollieren. Entweder du oder sie. Du bist der Alpha-Wolf. Denk daran, wenn es soweit ist. So funktioniert das!«
Ich muss durchhalten, hat sie gesagt. Das versuche ich, aber ich weiß nicht, wie lange ich es noch schaffe, nicht einzuschlafen. Ich hatte am See solche Angst. Adam hat mich belogen, hat Hope vor mir versteckt. Aber ich denke nicht, dass er mir am See etwas antun wollte. Ich war die, die ausgerastet ist.
Ich folge Hope mit hängendem Kopf, den Blick auf den Boden vor mir gerichtet, sehe ich ihre Fußabdrücke und folge ihnen wie in Trance. Ich sehe, mit welcher Leichtigkeit sie sich bewegt. Wie sie sich voller Zuversicht immer wieder zu mir umdreht, mir aufmunternd zunickt.
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