Ein Teil von mir ist gestorben, um zu leben. Ja, genauso fühlt es sich an.
Die Schmerzen sind noch da, aber sie fließen langsam ab. Ebbe. Ich schaue unter mein durchnässtes Shirt, will meine Wunde und das Blut sehen und bin sprachlos.
Da ist etwas. Ich habe ein neues Tattoo und seine Konturen leuchten weiß, als hätte jemand in mir ein kleines Licht angezündet. Ich lege vorsichtig meine Hand darauf. Draußen höre ich jetzt Stimmen. Seine Stimme ist auch dabei und die von anderen. Helfer, Mediziner, Unbekannte. Hoffentlich keine Vollstrecker.
Ich spüre eine minimale Bewegung unter meiner Hand, auf meinem neuen Tattoo. Ich bin verblüfft. Es bewegt sich! Das Tattoo bewegt sich! Himmel!
Haben mich die Schmerzen jetzt doch in den Wahnsinn getrieben? Und die Wunde? Sie blutet nicht. Ich werde das überleben.
Gleich kommen sie zu mir in den Helikopter. Die Schmerzen sind noch immer da, aber ich kümmere mich nicht um sie, denn mich beflügelt ein Glücksgefühl, das nicht hierher passt. Sterbe ich jetzt doch noch? Ich blicke an mir hinab und betrachte erneut das Tattoo der Bestie auf meiner Haut, wie es sich zusammenringelt, einem kleinen Drachen ähnlich und nur noch sachte leuchtet. Fast so, als würde es sich auf mir Schlafen legen.
Es existiert, es atmet auf seine Weise und es ist ein Teil von mir. Und dann hört es ganz auf zu leuchten und liegt ganz ruhig da. Nicht zu spät, damit es mein Geheimnis bleibt, denn jetzt ist er zurückgekommen.
Ich sehe nichts. Die Nacht hat ihre Flügel über der Sektion 0 ausgebreitet und der Himmel ist rabenschwarz, sternenlos. Wie lange hat der Flug gedauert?
Ich liege auf dem Rücken, auf einer Trage mit Rädern und Ärzte in weißen Kitteln, so wie Asha, nur älter, rollen mit mir davon. Meine Hand ruht auf meinem Bauch, meinem Baby, meinem neuen lebendigen Tattoo.
Die Lichter des Helikopters verschwinden aus meinem Blickfeld und er, ist neben der Trage und erteilt Befehle. Und es, mein lebendes Tattoo, verhält sich ganz ruhig, aber mir scheint es, als könne ich das leise Flüstern seines Atems in mir hören.
Die Luft ist kühl, um einiges kälter als in Sektion 13. Die Trage rüttelt mich ganz schön durch, bis sie mich über eine Schwelle schieben. Eine Schwelle von kalt zu warm, von finster zu blendend hell, von natürlich zu künstlich, medizinisch rein.
Die Wände scheinen aus purem Licht zu bestehen, sind nicht linear, nicht massiv. Einer der Menschen in weiß, eine Frau mit glänzenden, blauen Haaren, die leuchten und sich bewegen wie Flammen, beugt sich über mich.
»Du wirst nichts spüren.« Dann schießt sie mit einer medizinischen Pistole in meinen Oberarm. Es tut kaum weh. Auf meiner ausgereizten Schmerzskala irgendwo im Nullkommanullnulleins Bereich. Die vollkommene Dunkelheit des Narkosemittels greift mit ihren Schwingen um sich und hüllt meine Sinne ein. Asha hat keine silberne Pistole, aus der sie Flüssigkeiten in Oberarme schießen kann, die die Sinne vernebeln. Das Einzige, das ich noch wahrnehme, sind seine Befehle.
»Lösche ihre Erinnerungen. Alle! Sie soll sich an nichts erinnern.« Ich höre seine Worte. Der Klang in seiner Stimme ist nicht wiederzuerkennen. Ich verstehe, was er sagt, aber ich kann mich nicht rühren, mich nicht zur Wehr setzen. Ich kann nur hoffen, dass ich mich erinnern werde an seine Worte. Dass ich mich an das Gesicht des Mannes erinnere, den ich für diese Befehle töten werde. Dass ich mich an seinen Geruch erinnern werde. Warum tut er mir das nur an?
Es ist nicht das erste Mal, dass sie mir alles nehmen. Smaragdgrüne Substanzen werden sie mir in den Kopf spritzen, um mich, um meine Erinnerungen zu löschen. Mir kommt ein schrecklicher Gedanke. Wie oft haben sie das schon mit mir gemacht? War er es? Erinnere ich mich aus diesem Grund an seinen Duft?
Aber dieses Mal wird etwas zurückbleiben. Ein lebendiges Tattoo, das ich auf rätselhafte Weise in diese Welt geboren habe.
»An welche Sektion wird sie verkauft?«, höre ich nur noch leise die Stimme der Frau mit den blauen, flammenden Haaren.
»Keine. Ich will sie behalten«, sagt er.
»Wenn das die Gesandten erfahren, dann bist du geliefert!«
»Sie werden es nicht erfahren!«
Die Gesandten? Ich habe es gewusst! Er ist kein Gesandter. Aber wer ist er dann? Er kommt mir ganz nah, ich kann es riechen.
»Sie wird nicht verkauft, ich habe etwas anderes mit ihr vor«, höre ich ihn sagen, so nah, so nah…
So…
Ich fühle eine Berührung auf meiner Schulter, die mir eine Gänsehaut verursacht. Sanft und zärtlich. Ich höre Stimmen, die ganz nah sind, sich aber meilenweit entfernt anhören.
Eine unbekannte Frauenstimme: »Was machst du hier? Es ist dir nicht gestattet, hier zu sein.«
Eine unbekannte Männerstimme: »Ich frage mich, ob es richtig ist, was ich tue?«
Sie: »Von was sprichst du?«
Er: »Von ihr.«
Sie: »Wie du sie ansiehst!«
Er: »Kann sie uns hören?«
Ja, kann ich!
Sie: »Nein, sie ist narkotisiert.«
Er fragt: »Sie kann uns sicher nicht hören?«
»Schmerz- und Bewusstseinsausschaltung. Ihr Wahrnehmungsvermögen ist maximal gemindert, sie kann uns nicht hören. Todsicher!«
Doch, doch, ich höre jedes Wort.
»Ich will, dass du die Behandlung abbrichst.«
»Adam, dafür ist es zu spät.«
Über was sprechen die beiden?
»Ich will nicht, dass du ihre Erinnerungen löschst und ersetzt.«
»Das ist indiskutabel. Wir haben schon damit begonnen. Der Großteil ihrer Erinnerungen ist bereits unwiederbringlich gelöscht und der Prozess ist nicht mehr zu stoppen. Die Folgen könnten fatal für sie sein, wenn wir die Behandlung jetzt abbrechen.«
Folgen? Erinnerungen gelöscht?
Der Mann, dessen Name Adam ist, schweigt.
Sie spricht stattdessen weiter: »Adam, das ist eine wirklich komplizierte Sache. Sie hatte verdammtes Glück gehabt, dass sie überhaupt überlebt hat, bei so viel Blut, wie sie verloren hat.«
»Ich habe kein Blut gesehen?«
»Sie hatte innere Blutungen und das Gewebe ist stark beschädigt, aber wir bekommen das schon wieder hin. Zwei Wochen im künstlichen Koma werden ausreichen und sie ist wieder hergestellt. Es werden kaum Narben zurückbleiben, nur diese bizarren Tattoos.«
Sie kommt näher, ich spüre das und ich höre ihre Absätze auf dem Boden klacken.
»Ich würde diese Muster auf ihrer Haut gerne näher untersuchen. Sie sind anders. Ich habe schon von so etwas gehört. Menschen, die Tattoos bekommen, wenn sie Bestien töten. Das ist eine einmalige Chance, mehr darüber zu erfahren«, haucht sie. »Außerdem hätten wir auch endlich wieder mehr Zeit für uns. Ich habe dich wirklich sehr vermisst.«
»Lass das!«
»Was hast du? Sei doch nicht so schüchtern. Was hältst du von einer Willkommensparty – nur wir beide«, schnurrt sie.
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