Pharao war begeistert. „Wir werden die Gelegenheit unseres Besuches in Men-nefer nutzen, um ausführlich mit ihm zu reden. Es wäre vorteilhaft, Thutmosis“, wandte er sich an seinen ältesten Sohn, „wenn du erkennen ließest, dass du als Pharao einer Rückverlegung der Hauptstadt nach Men-nefer unter gewissen Umständen nicht abgeneigt gegenüberstündest …“
Thutmosis nickte. „Ich werde ihm schon sagen, was er hören will.“
„Was ist mit Haremhab?“ Pharao schaute in die Runde. „Ich möchte seine Karriere unbedingt fördern, hat er doch felsenfesten Rückhalt bei seinen Soldaten.“
„Kein Problem“, wusste Thutmosis zu berichten. „Ich hab ihm versprochen, dass er seine Truppen nach Waset mitnehmen kann. Er hat sofort zugesagt.“
„Das klingt gut“, meinte Pharao nachdenklich. „Aber ist auf ihn auch Verlass?“
„Davon bin ich überzeugt“.“ Amenhotep lächelte. „Er ist durch und durch Militär und weder an Innenpolitik noch an Religion interessiert. Und außerdem gibt es an seiner Loyalität dem Reich und Pharao gegenüber keinen Zweifel.“
„Sehr schön!“ Pharao lächelte zufrieden. „Aber was ist mit seiner Mutter? Re-ne-nutet liebt ihn abgöttisch und hat schon mehrfach seine Karriere behindert, da sie ihn nicht aus Hut-nesut fortgehen sehen möchte.“
„Ich habe ihr ins Gewissen geredet.“ Teje zupfte ihre Kalasiris zurecht. „Sie wird ihn ziehen lassen.“
„Oh, das ist eine gute Nachricht“, freute sich Pharao und wandte sich an Eje. „Schwager, sei so gut und nimm Haremhab ein wenig unter deine Fittiche. Nach allem was ich über ihn weiß, dürfte er zu den größten Hoffnungen Anlass geben. Es wäre schade, dieses Talent ungenutzt zu lassen.“
Einer nach dem anderen berichtete nun kurz und knapp über die geführten Gespräche. Eje konnte Pharao der ungeminderten Loyalität seines Onkels Minemhat versichern, Sit-amun wusste aufgrund ihrer Plaudereien mit den Kindern der Gaufürsten über etliche Erkenntnisse zu berichten, die Ani sich vornahm, gleich morgen in deren Dossiers nachzutragen. Er war froh, als Pharao endlich die formlose Zusammenkunft für beendet erklärte, war er doch so müde, dass ihm die Augen zuzufallen drohten. „Morgen geht es weiter“, verkündete Pharao. „Und es wird gewiss kein leichterer Tag als heute.“
In der Tat war keiner der nun folgenden Tage leichter, auch wenn jeder zweite Abend ohne Gäste blieb. Diese Abende wurden allerdings dazu genutzt, um sich innerhalb der königlichen Familie über die neuesten Erkenntnisse auszutauschen und die politischen Vorhaben der nächsten Zeit zu besprechen. Mit staunender Bewunderung sah Ani wie Pharao ohne zu klagen oder zu murren jeden Morgen bei Sonnenaufgang seine religiösen Pflichten wahrnahm, die sich manches Mal bis weit in den Tag hinein erstreckten, nur um sich des Abends wieder seinen Gästen oder der Familie zu widmen. Die üblichen tagespolitischen Verpflichtungen mussten irgendwann zwischendurch erledigt werden, auch wenn sie selten einmal von der Art waren, dass man sie nebenbei abarbeiten konnte. Mehr als ein paar Stunden Schlaf waren Pharao selten vergönnt. Teje, Mutemwia und Eje unterstützten ihn nach Leibeskräften, ebenso wie Thutmosis und Amenhotep, ja, sogar Sit-amun und Nofretete. Doch je länger das Opet-Fest dauerte, desto müder und erschöpfter sah Pharao aus, so dass Ani ihn schließlich aufrichtig bedauerte.
Teje hatte ihm bei einer sich bietenden Gelegenheit ihre Sorgen über den Gesundheitszustand ihres Mannes anvertraut. Er sei neuerdings oftmals sehr erschöpft und überarbeitet, was sie früher nicht von ihm kannte. Teje vermutete, dass es vor allem auf die Zahnschmerzen zurückzuführen sei, die ihn mehr und mehr plagten und ihn auch oft genug des Nachts nicht zur Ruhe kommen ließen. „Ich habe ihm immer gesagt, dass er viel zuviel Brot isst. Seine Zähne sind durch den Sand, der sich wegen des Abriebs der Mahlsteine im Mehl befindet, arg in Mitleidenschaft gezogen. Aber“, sie zuckte mit den Schultern, „er hört ja nicht auf mich. Und außerdem isst er nun einmal nichts lieber als frisch gebackenes Brot. Er lässt sogar die ausgefallensten Leckerbissen dafür liegen.“ In der Tat: Wie oft hatte Ani selbst während der nächtlichen Festmahle Pharao beobachten können, wie er genüsslich auf einem Stück Brot herumkaute, das er sich in einem unbeobachteten Moment schnell in den Mund gesteckt hatte. Seit ihm vor ein paar Jahren einer der Backenzähne gezogen worden war, mied er die Ärzte allerdings wie die Pest. „Schreib das über seine Vorliebe für Brot aber besser nicht in sein Dossier, Ani“, blinzelte Teje ihn an. „Er würde sofort wissen, wer dir dies erzählt hat. Und er mag es überhaupt nicht, wenn jemand aus der Familie etwas über ihn ausplaudert.“
Je besser Ani den Guten Gott kannte, desto menschlicher erschien er ihm. Gleichzeitig stieg jedoch seine Hochachtung, da er erkannte, wie viel Disziplin und Selbstbeherrschung das Hohe Amt von seinem Inhaber forderte. Manchmal gar schien es ihm geradezu übermenschlich, was der Gute Gott leistete. So waren es schließlich aufrichtige Bewunderung und tief empfundener Respekt, die Ani seinem höchsten Herrn entgegenbrachte.
Wie im Fluge waren die Tage der Feierlichkeiten vergangen. Ani glaubte, beobachtet zu haben, dass sich der neue Landmann-Stil tatsächlich ausgebreitet zu haben schien. Immer mehr vor allem junge Familienmitglieder der abendlichen Gäste erprobten sich in der neuen Schlichtheit. Manchmal gar schien es ihm, als wollten die jungen Leute gegen die althergebrachten Traditionen der Elterngeneration aufbegehren und mit ihrer betont schlichten Aufmachung ein Zeichen setzen. In Gruppen standen sie während der Bankette zusammen und diskutierten ihre neuen Gedanken. Man lehnte die ansonsten übliche Heiratspolitik rundherum ab und propagierte die Heirat aus Liebe, so, wie es Pharao mit seiner Großen königlichen Gemahlin Teje vorlebte. Hatte er sich seinerzeit doch gegen alle Widerstände durchgesetzt, um eine Frau von niederem Stand zu heiraten. In den Augen der jungen Leute war die Familie nicht mehr die Keimzelle familienpolitischer Macht, sondern ein Hort der Zuneigung und Liebe, ein Ort der Geborgenheit und des Zusammenhalts. Insbesondere die jungen, gebildeten Frauen sahen in Tejes Stellung den Beleg dafür, dass Mann und Frau einander unterstützen und nicht dominieren sollten. Sie beschworen neue Zeiten herauf, in denen Mann und Frau einander ebenbürtig sein würden und in Liebe verbunden der Familie und letztendlich auch dem Staat vorstanden. Ihre Heldinnen waren Tetischeri, die maßgeblich an der Befreiung von der Fremdherrschaft der Hyksos beteiligt gewesen war und natürlich Hatschepsut, der ruhmreiche Pharao, der Ägypten zur Blüte geführt hatte und über dessen Weiblichkeit zu sprechen bislang als unschicklich galt. Warum sollten Frauen nicht gleichberechtigt neben ihren Männern stehen, wo sie doch keineswegs dümmer oder weniger willensstark waren, so wie es von den alten konservativen Kräften noch immer gern behauptet wurde.
In zahlreichen Gesprächen hatte Ani feststellen können, dass dieses neue Gedankengut schließlich auch vor der religiösen Einstellung keineswegs Halt machte. In den Augen der Jungen hatten die Priester ihre in den letzten Generationen immer größer gewordene Macht lediglich dazu genutzt, um ihren Reichtum und ihren persönlichen Einfluss zu mehren und um darauf zu achten, dass Frauen ihnen ihre Stellung nicht streitig machen konnten. Das gesamte religiöse System Ägyptens schien ihnen zu einem bloßen Machtapparat verkommen zu sein, wie Ani mehrfach aus ihren Bemerkungen heraushören konnte. Waren nicht auch Schu und Tefnut gleichberechtigt? Die beiden ersten Götter, die der Schöpfergott Atum am Anfang allen Seins hervorgebracht hatte und die einer ohne den anderen nicht denkbar waren. So, wie Pharao und seine Große königliche Gemahlin Teje, die ebenso eine Einheit bildeten und einander in Liebe und Vertrauen zugetan waren. Ja, einige von den Priestern gern als Extremisten bezeichnete junge Hitzköpfe gingen sogar soweit, zu behaupten, dass eine große Zahl der Götter lediglich aus regionalen Interessen erfunden worden sei. Hatte doch jede Stadt Ägyptens, ja, fast ein jedes Dorf, einen eigenen Gott, von denen sich manche im Lauf der Jahrhunderte zu Reichsgöttern entwickelt hatten, die schließlich im ganzen Land verehrt wurden. Mit Erschrecken musste Ani feststellen, dass sogar eindeutig ketzerische Gedanken freimütig von den jungen Leuten diskutiert wurden. War ein jeder der zahllosen Götter letztendlich nicht nur jeweils ein Aspekt einer einzigen göttlichen Macht? Ani musste an seinen allerersten Tag bei Hofe denken, als er mit Amenhotep zum Einbalsamierungshaus fuhr, um sich von seinem Vater zu verabschieden. Amenhotep hatte ihn damals gewarnt, derartiges Gedankengut niemals außerhalb der Familie zu äußern. Und nun sah Ani die jungen, schlicht gekleideten Menschen aus den besten Familien Ägyptens, wie sie freimütig über all dies diskutierten. „Ihr Stand und ihre Herkunft schützen sie“, flüsterte ihm Amenhotep ins Ohr. „Sind es doch die Kinder, Neffen und Nichten oder Enkel und Urenkel der Oberpriester und Gaufürsten.“ Auf Anis Frage, warum dann der Pharao und seine Familie derartiges nicht öffentlich äußern dürften, antwortete Amenhotep nur knapp: „Weil Pharao die Macht hat, solche Überlegungen tatsächlich zur Wahrheit werden zu lassen. Und du wirst dir denken können, dass es Kräfte gibt, die alles daran setzen werden, dies zu verhindern. Es würde das Land in einen Bruderkrieg stürzen und auf Jahre hinaus schwächen. Noch ist es zu früh dazu. Aber Thutmosis wird dies vielleicht eines Tages ändern können.“
Читать дальше