„Ich darf doch bitten!“ Amenhotep sagte dies mit einer derartigen Entrüstung in der Stimme, dass Ani ihm augenblicklich glaubte, dass solch ein Gedanke ihm nie und nimmer in den Sinn gekommen wäre. „Ich habe der Wahrheit ins Gesicht geblickt“, sagte Amenhotep fast ehrfürchtig.
„Das ist meistens keine angenehme Begegnung.“
„Nein, meistens nicht. Aber man hat danach wenigstens Klarheit. Man weiß, von wem man belogen wird.“
„Ach komm, Amenhotep! Jeder von uns hat seine eigene Wahrheit. Ich hab meine, du hast deine, mein Vater hat seine und dein Vater ebenso.“
„Bauerntölpel-Blödsinn! Wir müssen uns nur trauen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Wenn die Sonne aufgeht, ist die Nacht vorbei. Das ist die Wahrheit. Die Nacht ist voller Schrecken, Angst und Tod. Die Sonne ist Wahrheit und bringt sie ans Licht.“
„Oh je!“, Ani kicherte verhalten. „Da haben wir’s. Du bist der Sohn eines Priesters und redest deswegen solch ein Zeug daher. Womöglich bist du noch der Sohn eines Oberpriesters einer dieser verrückten Sekten.“
„Fast richtig!“, erwiderte Amenhotep und kicherte ebenfalls.
Plötzlich zogen sich die Priester zurück. Einer nach dem anderen verschwand wieder hinter der Pforte. Kaum war sie geschlossen, als sie abermals geöffnet wurde und zwei Priesterschüler etwas Schweres herausschleppten, ein Dritter hinterher.
Jetzt war es Amenhotep, der seinen neuen Freund im Boot zurückhalten musste. Und da er fürchtete, Ani könne jeden Augenblick anfangen, wie von Sinnen zu schreien, überlegte Amenhotep einen kurzen Atemzug lang, ob es denn nicht eine allzu widerwärtige Entweihung seiner selbst wäre, wenn er Ani den Mund zuhielte. Schließlich entschied er sich jedoch dafür, dass dies eine mit einem Kriegsfall vergleichbare Situation sei, die somit derartige Mittel erlaubte. Gerade noch rechtzeitig, denn Ani krümmte sich vor Schmerz, als hätte man ihm in den Magen getreten. Anis Tränen liefen über seine Hand, die er mit aller Kraft vor den Mund seines neuen Freundes hielt, während Amenhotep etwas Eigentümliches verspürte. Es war ein Gefühl, dass er bislang nur gegenüber seinen Eltern, Geschwistern, Verwandten und Freunden gekannt hatte. Außenstehende oder gar Fremde waren davon ausgeschlossen. Denn mit Menschen, die man nicht berührte, hatte man dort, wo er herkam, nur äußerst selten Mitgefühl.
Die Priester schleppten einen übel zugerichteten Toten heraus und schmissen ihn etwas flussabwärts wie ein Stück Abfall in den Nil. Ani krümmte sich vor Schmerz und versuchte, sich aus Amenhoteps Armen zu befreien, die bereits drohten, ihre Kraft zu verlieren. Also nahm Amenhotep Ani einfach fest in die Arme und strich ihm tröstend über den Kopf.
Schon längst waren die Priester wieder hinter der geheimnisvollen Pforte verschwunden, als Ani sich soweit beruhigt hatte, dass er versuchen konnte, sich zu erklären. „Das war mein Vater. Sie haben meinen Vater erschlagen! Warum nur? Warum? Er wollte Opfergaben bringen für Gott Amun, der in seinem Zorn mir erst heute im Morgengrauen die Mutter und die neugeborene Schwester genommen hat.“
Amenhotep hielt das schluchzende Bündel Mensch fest in seinen Armen, das binnen eines Tages alle seine Lieben verloren hatte. Fast meinte er, dieselben Schmerzen fühlen zu können wie Ani. Nur dessen langsam aufziehende Angst vor dem Morgen kannte er nicht. „Er hat das Allerheiligste betreten“, versuchte Amenhotep zu erklären. „Keiner darf das, nur der Pharao und der Oberpriester. Darauf steht der Tod.“
„Woher weißt du denn das?“
„Oh, so etwas bringt man mir im Unterricht bei. Und noch etliches anderes mehr…“
„Nein!“, unterbrach ihn Ani. „Ich meine, woher weißt du, dass mein Vater das Allerheiligste betreten hat? Er wollte nur Gott Amun opfern, um ihn gnädig zu stimmen.“
„Na, ich war doch dabei!“ sagte Amenhotep verwundert. „Plötzlich stand er da, wie aus dem Erdboden gewachsen und hatte einen Korb mit sich.“
„Ja, die Opfergaben. Hat Amun sie bekommen?“
Amenhotep stutzte. „Ja, sicher. Natürlich hat er sie bekommen. Dein Vater hat sie ihm direkt vor die Füße gelegt. Verstehst du denn nicht? Dein Vater ist mir nichts dir nichts in das Allerheiligste des Gottes Amun gelaufen, des Dunklen, den niemand erblicken darf. Er hat dem Gott ins Angesicht geschaut. Also musste er sterben.“
Ani wurde bleich vor Schrecken. „Aber er wollte doch nur die Opfergaben bringen. Und was hast du getan? Du hast einfach zugesehen, wie man einen unbescholtenen Mann umbringt?“
„Ich wusste ja nicht, dass es dein Vater war. Und dich kannte ich ja auch noch gar nicht. Er war einfach nur ein Mann, der am falschen Ort war.“
„Er ist tot! Für dich ist es lediglich ein Missverständnis, eine Bagatelle! Aber für mich war er der letzte Mensch, den ich noch hatte.“ Ani wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Jetzt sag mir, warum hast du dich dann überhaupt verborgen?“
„Der Gang führt direkt ins Allerheiligste.“
„Na und?“ Ani verstand nicht. „Du warst doch längst schon draußen.“
„Sicher. Aber wer durch diesen Gang kommt, war vorher zwangsläufig im Allerheiligsten.“
„Aha…“ Ani begann zu verstehen. „Warst du es etwa, der meinen Vater getötet hat?“
„Blödsinn! Ich hatte gerade eine Unterweisung durch den Oberpriester. Die letzte Tempelkammer vor dem Allerheiligsten ist von diesem nur durch einen halbdurchsichtigen Vorhang getrennt. Und hinter dem thront Gott Amun. Plötzlich stand dein Vater direkt neben dem Gott und legte ihm seine Gaben zu Füßen. Es gab einen unglaublichen Tumult. Ich habe ihn genutzt. Ich bin durch den Vorhang geschlüpft und habe Amun endlich ins Gesicht geschaut. Und soll ich dir sagen, was ich erblickt habe? Eine lächerliche Statue aus schwarzem Stein, leblos und starr. Ohne jedes Leben. Sie war noch nicht einmal von besonders erlesener Qualität. Irgendeine Statue wie sie in jedem Provinz-Tempel herumsteht. Ein Popanz, ein Mummenschanz, ein Spuk, um kleinen Kindern Angst zu machen.“
„Lass mich gehen, ich muss Vater suchen, damit ich ihn wenigstens richtig bestatten kann.“ Schon war Ani aus dem Boot gesprungen und hatte den Morast mit schnellen Schritten durchquert, um am Ufer entlang zu laufen bis zu der Stelle, wo die Priester den Leichnam ins Wasser geworfen hatten. Obwohl der Nil schnell dahinströmte war der Körper des Vaters nicht allzu weit abgetrieben worden. In einem Gestrüpp, das kaum noch aus der Flut herausragte, war er hängen geblieben. Schnell war Ani dorthin gewatet. Doch so sehr er auch zog und zerrte, das Wasser drückte den Leichnam immer stärker ins Gebüsch. „So hilf mir doch!“, rief er Amenhotep zu, der inzwischen ebenfalls das Boot verlassen hatte und am Ufer stand.
„Lass das!“, kam Amenhoteps Antwort. „Ich hole Hilfe. Und dann bekommt dein Vater die ihm gebührende Bestattung.“ Schon war er, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, in Richtung der Anlagestelle gelaufen. Ani sah ein, dass all seine Versuche nichts weiter bewirken würden, als dass der Leichnam vom Druck des Stroms nur noch tiefer ins Gebüsch gedrückt werden würde. So setzte er sich ans Ufer, aufmerksam darauf achtend, dass der Fluss den Körper nicht doch noch mit sich riss oder gar Krokodile sich daran zu schaffen machten.
Da saß er nun. Heute Morgen erst hatte er Mutter und Schwester in der kargen Erde begraben und nun starrte er auf den toten Vater, der der letzte Mensch war, den er auf dieser Welt noch hatte. Mit seinen ausgebreiteten Armen, die sich mit der Strömung bewegten, erinnerte ihn der tote Vater an einen Falken, der nahezu bewegungslos hoch über der Wüste schwebte. Ani fühlte sich einsam und verlassen. War er doch wie das Stück Treibholz, das er gerade vorbei strudeln sah. Es gehörte niemandem mehr und es trieb sinn- und zwecklos ins Nirgendwo. Wozu sollte er noch zurück in die elterliche Hütte? Das Land bebauen? Das konnte er niemals allein. Hatte es doch schon sein Vater kaum geschafft. Man würde ihn einfach von dem Stück Land fortjagen, das man seinem Vater zur Bewirtschaftung zugeteilt hatte. Er war jetzt wie einer der Köter, die ziellos umherstreiften und darauf hofften, von einer gnädigen Seele etwas Essbares zugeworfen zu bekommen.
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