Frank nahm seine Jacke.
„Kann ich jetzt gehen?“ Bockig wartete er erst gar nicht eine Antwort ab.
„Morgen habe ich deinen Bericht auf meinem Schreibtisch liegen, nirgendwo anders.“
Wagner reagierte nicht und war schon ein paar Schritte weg.
„Deine Waffe und deine Marke.“
Plötzlich drehte er sich um.
„Was?“
„Deine Waffe und deine Marke. Du bist erstmal raus. Was hast du denn gedacht?“
Frank ging auf Kuntz zu.
„Das können Sie doch nicht machen.“
Kuntz stand auf.
„Das kann ich nicht nur, das muss ich sogar.“
„Was soll denn der Quatsch?“
„Das ist kein Quatsch. Du hast einen Befehl missachtet. Du bist suspendiert. Erstmal. Morgen reden wir weiter.“
Wagner verharrte für einen Augenblick. Dann wühlte er in seiner Jacke und legte seine Marke und seine Waffe auf den Mauerrest.
„Scheiße.“
„Das kann man so sagen. Und Frank, ich weiß, dass du noch eine zweite Waffe hast. Keine Extratouren. Du bist draußen, hast du das verstanden? Draußen!“
Frank musterte den Polizeidirektor, drehte sich um und ging. Kuntz schaute ihm noch für einen Augenblick hinterher, setzte sich wieder auf den Mauerrest und vergrub sein Gesicht in den Händen.
„Scheiße, verfluchte Scheiße.“
Der Tisch, auf dem Sarah saß, war aus robustem, altem Holz. In der Hand hielt sie eine Tasse kalten Kaffee. Ihre Füße stützten sich auf die davorstehende Bank. Sie nahm ihn nicht wahr, diesen herrlichen Blick über die Brandenburger Felder. Mit tosendem Lärm planierte eine alte Raupe die Flächen, nicht unweit vor dem alten Gehöft. Sie beobachtete uninteressiert den wild mit den Armen fuchtelnden Mann in seinem piekfeinen Anzug. Er sah aus, wie aus dem Ei gepellt. Der alte, graumelierte Mann versuchte krampfhaft, dem Raupenfahrer klarzumachen, was der selber am besten wusste. Aber so war er, der alte Mann. Alles wollte er lieber selber und natürlich besser machen. Die kreuz und quer verteilten, farbig gekennzeichneten Holzpfähle ließen erahnen, dass hier gebaut werden sollte. Sarah fragte sich noch immer, wie er mal wieder so schnell eine Baugenehmigung und dann noch mitten auf dem Feld bekommen hatte. Aber genauso schnell verwarf sie den Gedanken auch wieder. Ihr reichte das alte Haus, vor dem sie saß. Emotionslos hatte sie das Angebot ihres Vaters angenommen. Sie hatte auch keine große Wahl gehabt. Immer wieder dachte sie sich, wäre ein Platz auf dem Mond zu haben gewesen, sie hätte sofort zugesagt. Bloß weg, weit weg. Keinen sehen, keinen hören. Am liebsten hätte sie nicht mehr gelebt, aber irgendetwas ließ sie morgens immer wieder erwachen, um sich über den Tag zu quälen. Und das nun schon seit fast einem Jahr.
Ihr Vater hatte ihr den Hof besorgt. Da kannst du zur Ruhe kommen, waren seine Worte gewesen. Es war keine Rede davon, dass zu dem alten Gehöft noch zig Hektar Felder und Wiesen gehörten, und dass er da so ganz nebenbei bauen wollte. Sarah hatte eine Woche Zeit gehabt, um sich zu entscheiden. Sie fühlte sich mal wieder bevormundet, hin und her geschoben. Es war ihr egal, sie wollte nur irgendwo auf dieser Welt ihre Ruhe haben. Dass das Haus eine Grunderneuerung brauchte, registrierte sie kaum. Jeden Tag war sie in der Zeit des Ultimatums ihres Vaters da gewesen, aber nur ein einziges Mal war sie durch die zahlreichen Räume gegangen. Lustlos wie ein Geist. Die anderen Tage war sie nur auf der Bank gesessen und hatte in die Ferne geblickt. Ihr Blick hatte sich in den Horizont gebohrt, in der Hoffnung, jedes Mal ein Stück weiter sehen zu können. Sie hatte nicht abwägen müssen, um sich zu entscheiden. Sie hatte gewusst, am letzten Tag der Woche würde sie eine Entscheidung treffen. Genau wie früher in ihrem Job. Sie hatte immer im richtigen Augenblick die richtige Entscheidung getroffen. Bis auf das eine Mal. Und wieder ertappte sie sich dabei, wie ihre Gedanken sie an die eine fatale Nacht erinnerten, die ihr Leben aus den Angeln gehoben hatte. Was sie auch dachte, wohin ihre Gedanken sie auch führten, immer und immer wieder hatte sie die Bilder dieser einen Nacht vor Augen.
„Na, weißt du, was du dir hier antust?“
Mit leisen Schritten hatte sich ihre Mutter an die Bank geschlichen. Eine kleine Kopfbewegung in Richtung ihrer Mutter und ein verschmitztes Lächeln waren die einzigen Anzeichen, dass doch noch etwas Leben in Sarah war.
„Du kannst auch weiter bei uns in Berlin wohnen. Das Haus ist groß genug für uns alle.“
Sanft klang die Stimme ihrer Mutter. Wie eine Lady setzte sie sich neben Sarah auf die Bank. Grazil, attraktiv, und immer besonnen war sie. Was sie sagte, war stets durchdacht. Nie hatte sie Sarah und ihrem Bruder ihren Willen aufgedrängt. Wenn überhaupt, wollte sie nur Ratgeber sein. Eigene Entscheidungen zu fällen, hatte sie keinem abgenommen. Auch in der Firma ihres Mannes hielt sie die Fäden in der Hand. Sarahs Blick verharrte auf dem Gesicht ihrer Mutter. Sie war eine hübsche Frau. Mit sechsundfünfzig Jahren wollte Sarah auch noch so aussehen wie ihre Mutter. Schon immer wollte sie so aussehen wie ihre Mutter. Ohne großen Aufwand strahlte Marianne Fender immer eine natürliche Schönheit aus. Sie hatte sich nie viel aus teuren Klamotten, Beautyfarmen, wertvollem Schmuck oder anderen Statussymbolen gemacht. Obwohl sie sich das locker hätte leisten können. Die Firma von Sarahs Eltern lief gut. Sie lief schon immer gut, auch in rezessiven Phasen. Ende der sechziger Jahre hatte der Maschinenbau geboomt, und es war kein Ende in Sicht.
Ein solides Geschäft, hatte ihr Vater immer gesagt. Meistens war er dabei vor dem Fenster seines Büros in Tempelhof gestanden. Die Daumen in der Weste seines Anzuges vergraben, hatte er davon geträumt, dass die Mauer wieder fallen würde.
„Glaubt mir, der Osten braucht uns. Die haben noch Maschinen aus dem Zweiten Weltkrieg. Eines Tages …“ Den Rest seiner Zukunftspläne hatte er dann meist verschluckt. Als es soweit war, konnte Europa gar nicht groß genug für ihn sein. Und Sarahs Mutter war immer an seiner Seite gewesen. Alle Entscheidungen hatte er mit ihr oder sie mit ihm besprochen.
„Kaffee?“
„Kalt.“
„Macht nichts.“
Marianne Fender griff nach der Tasse, ohne ihren Blick von dem Mann im Anzug abzuwenden.
„Schmeckt ja scheußlich.“
„Mama, der Kaffee ist kalt.“
„Auch warm würde der nicht besser schmecken“, erwiderte Marianne. „Komm, ich mach uns einen neuen.“
„Lass mal gut sein, mir reicht’s für heute.“
„Aber vielleicht will ja dein Vater einen“, versuchte Marianne das Gespräch am Laufen zu halten. Viel zu wenig hatte sie die letzten Wochen und Monate mit ihrer Tochter gesprochen. Sie war einfach nicht an sie rangekommen. Die letzten fünf Minuten waren für Marianne schon ein kleines Erfolgserlebnis. „Wer ist die alte Frau da vorne?“
Sarah blickte zu der alten Frau rüber. Jeden Tag, an dem sie bisher hier gewesen war, hatte sie am gegenüberliegenden Straßenrand gesessen. Vor sich ein kleines Feuer, neben sich ein paar Reisigzweige und eine kleine alte Holzkiste. Das Grundstück lag am Ende der Dorfstraße. Bis heute hatte Sarah von ihr keine Notiz genommen. Sie wusste nicht mal, wo sie wohnte und warum sie jeden Tag an der Straße saß und wie gelähmt in das vor sich hin dümpelnde Feuer starrte. Sie passte einfach hierher. Glostelitz hieß das kleine Kaff. Sarah erwischte sich dabei, wie sie das erste Mal die Umgebung richtig wahrnahm. Im Gegensatz zu Berlin gab es hier nur eine Handvoll Häuser. Bis zum nächsten größeren Ort waren es ein paar Kilometer. Nach Brandenburg war es nicht allzu weit. Die Zeit schien hier stillzustehen. Keine der versprochenen blühenden Landschaften. Der alte Mann im feinen Nadelzwirn hätte nie gedacht, dass Sarah sein Angebot annehmen und sich hierher zurückziehen würde.
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