Aber nein, kommense, war doch nur Schbass, ehrlich. Auf Anraten eines Jägers hängte ich einen bunten Luftballon an das Geländer, über den sich die Taube so dermaßen ärgerte, dass sie sich einen anderen Balkon suchen musste.
So, jetzt isses aber genug mit spekulieren. Jetzt guck ich in die Kiste …
Kassetten. Watt? Wer bist du denn? Kassetten? Echt jetzt?
Musikkassetten. Entweder selbst aus dem Radio aufgenommen oder von LPs oder Singles überspielt. Aber der weit größere Teil aus dem Radio aufgenommen. 150, 200 oder 300, wahrscheinlich aber noch mehr. Schwarze, graue, gelbe, rote Kassetten standen in mehreren Reihen, dicht an dicht nebeneinander, in vier, fünf oder noch mehr Lagen. Und in den freien Zwischenräumen noch mehr davon. Die meisten davon ohne Hülle. Nur die Kassetten. Keine Inhaltsangabe, keine Songs, keine Album- beziehungsweise LP-Informationen, keine Bandnamen. Nur „Mixtape“. Mit unterschiedlichen Stiften und Farben. Auf jeder einzelnen Kassette. „Mixtape“. Noch nicht einmal durchnummeriert waren sie. Nix. Einfach „Mixtape“. Aber immerhin mit Anführungszeichen. Wer bitte macht denn so was?
Nun saß ich also hier in einem Berg von unbeschrifteten Kassetten, wie ein hyperaktives ADHS-Kind im Ikea-Bällchenparadies und blickte etwas ratlos umher. Ich schnappte mir die Kiste, schob sie, während mir wieder ein Rudel Wollmäuse folgte, über das Laminat, rüber ins Wohnzimmer vor meine Anlage - dazu ein großer, dampfender Pott Milchkaffee zu meiner Linken und eine Tüte Gummibärchen zu meiner Rechten – und faltete mich unter großen Schmerzen und knackenden Kniegelenken auf einem Sitzkissen zusammen. Hier würde ich ohne fremde Hilfe nie mehr hochkommen, aber jetzt saß ich erst mal hier vor meiner Kassettenkiste.
Verrückt, wie viel unterschiedliche Marken es damals schon gab, das war der Hammer, mein Gott. Maxwell, TDK, Sony, Philips, Agfa, BASF und irgendwelche billigen No-Name-Kassetten von Aldi oder Lidl. Und dann noch diese ganzen Sachen, wie Fe2CO2 oder CO2. Was um Himmels willen hatte das zu bedeuten? Irgendeinem Ingenieur schien es wichtig zu sein, dass diese Kassette aus CO2 ist, CO2 beinhaltet oder CO2 nicht verträgt oder so. Hatte da dieser Cro seinen Namen her? Um ehrlich zu sein, es interessierte mich damals nicht.
Heute hat sich mein Interesse für technische Details etwas zu Gunsten der Technik verschoben, das musste ich zugeben, denn ich hatte noch so einige Überbleibsel aus meiner aktiven Musikerzeit daheim stehen. Ein paar große Studio-Monitorboxen. Zwei Equalizer, einen für jeden Kanal. Eine Endstufe, ein Effektgerät, eine passive 17 Zoll Bassbox, die gleich hinter dem Flatscreen stand, und ein flacher, aktiver 30er Bass unterm Sofa. Wenn Luke Skywalker mit seinem X-Wing Fighter den Todesstern in die Luft jagte, versetzte der 30er Bass mein Sofa komplett in gleichmäßige Vibrationen und ich musste meine Gäste bitten, vor der Explosion des Todessterns ihre Taschen zu entleeren und ihre Brillen abzunehmen. Unzählige Brillen und Kleingeld hatten sich deswegen schon in die Ritzen meines Sofas hineinvibriert und mit dem Geld bezahlte ich einen Teil meiner Miete, die Brillen spendete ich regelmäßig an die Organisation „Brille ohne Grenzen.“ Wenn ich beim Fernsehen meinen Gästen noch eine Handvoll Blumenerde ins Gesicht schmiss, war das, als wäre sie mittendrin im Geschehen. DAS ist 3-D und zwar ohne Brille. Eat this, Kinopolis. Erst wenn mein Besteck in der Küchenschublade zu rasseln begann und die Fensterscheiben im Rhythmus der Bassdrum vibrierten, dann bekamen auch die Nachbarn mit, dass ich gerade Musik hörte.
Tja, nun saß ich mit meiner Kassettenkiste vor meiner Wohnzimmer-PA und schob Regler hin und her, drückte Tasten und drehte Knöpfe und überlegte kurz, ob ich das digitale 16-Spur-Mischpult aus meiner Home-Recording-Ecke eben rüber rollen sollte, um das alles noch zusätzlich durch das Mischpult zu jagen, beschloss aber, dass die 2 x 750 Watt Sinus der Endstufe, jetzt, so kurz vor 23 Uhr, doch vollkommen ausreichen sollten. Ich spürte, wie die Finger meiner rechten Hand anfingen, unkontrolliert zu verkrampften und ein Auge fing an, unregelmäßig zu zucken. Ich bekam das sogenannte weltweit bekannte „Gitarristen-Tourett-Syndrom.“ Das Gefühl, dem eigentlich alle Gitarristen kurz über lang verfielen: alle Regler nach rechts. Alles auf volle Möhre. Volles Rohr aufdrehen, bis sämtliche LEDs clippten.
Plötzlich war es mir, als blinkten mich sämtliche Lichter meiner Anlage vorwurfsvoll an, als wollten sie mir sagen: „Hör zu Digga. Erstens ist es nicht kurz vor 23 Uhr. Die ersten Hühner werden sich gleich wieder sehr müde auf ihre Stange im Käfig schleppen und zweitens schiebst du da gleich ´ne etwa 30 Jahre alte Kassette in dein Tapedeck. Was glaubst du, da zu hören, du Brot? Du kannst froh sein, wenn sich das Tonband nicht augenblicklich in winzig kleine Teilchen auflöst. Und drittens: So geil is deine Anlage jetzt auch wieder nicht.“ Etwas bockig denke ich mir: „Doch. Is eben wohl geil, die Anlage“, entscheide mich dann aber, für den Augenblick den blinkenden Lichtern recht zu geben.
Ich drehte alle Schalter und Regler zurück, schaltete Equalizer, Effektgerät und beide Bassboxen und schließlich die gesamte Anlage ab und fast augenblicklich blieb diese runde Scheibe, die sich in meinem Stromzähler im Flur surrend drehte, stehen und ich kramte vom Dachboden einen uralten Grundig-Kassettenrekorder hervor. Ich blies kurz etwas den Staub von dem Teil, steckte das Stromkabel ein und siehe da, dieses 40 Jahre alte Gerät erwachte klaglos zum Leben. Ein Kassettenrekorder, zwei kleine Boxen. Mehr brauchte ich nicht.
Immerhin ging es hier ja nicht um brillierende Höhen und pumpende Bässe, also nicht um eine Klangexplosion oder ein Tongewitter. Es ging hier eigentlich um Erinnerungen. Um Emotionen und Bilder, die diese Lieder reproduzieren würden. Und das sollte wohl auch ohne High-End und ohne Hi-Fi funktionieren. Ich wählte eine Kassette. Irgendeine, völlig egal, jede Einzelne schien so gut, wie die andere zu sein und ich fragte mich, was ich da wohl gleich hören würde?
Jede Kassette war im Grunde genommen eine Art Zeitkapsel, die meine komplette DNA der 80er konservierte. Nicht nur das. Jede einzelne Kassette, jedes einzelne Lied war ein Spiegelbild meiner Persönlichkeit. Ein Backup meines Charakters und eine Blaupause meiner Seele.
Auch ein Zeitdokument der damaligen Musikindustrie und der aktuellen Charts natürlich. Klar, auch damals richtete sich schon der Musikgeschmack nach dem, was in der Hitparade zu hören war. Wie ein Profiler würde man aus jedem einzelnen Lied und aus der Kombination mit anderen Liedern meinen damaligen Gemütszustand herauslesen können. War ich wütend und zornig? War ich verliebt oder trauerte ich einem Mädchen hinterher? War ich eher ausgeglichen und locker, welche Gefühle, welche Sorgen bestimmten damals mein Leben. Was brachte mich eventuell aus dem Gleichgewicht oder was pegelte mich wieder ein? All das würde ich aus den Liedern heraus hören können.
Langsam und gleichmäßig wird das helle Hallenlicht herunter gefahren. Die Bühne, die an der einen Stirnseite der Halle steht, liegt komplett im Dunkeln und man kann fast gar nichts auf ihr erkennen. Wenn überhaupt, dann nur ein paar schemenhafte Umrisse. Die Nebelmaschine faucht eine leicht nach Erdbeere schmeckende dichte Rauchwolke über die Bühne.
Der Mischer am Mischpult zieht den Regler für den Keyboard-Kanal langsam auf und ein wabernder, anhaltender Basston kriecht aus der PA und zieht wie Nebelschwaden in den Zuschauerraum. Er ist tief. Ganz tief. Ein Ton, fast schon im Subbass-Bereich, der eher zu spüren, als zu hören ist. Ein wohltuendes Grummeln verteilt sich im Bauch. Das Publikum wird merklich leiser, bis eine fast schon gespenstische Ruhe in der ganzen Halle herrscht und nur noch vereinzelte Rufe und Pfiffe zu hören sind.
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