Der Schurke für unseren Thriller ist natürlich eine extrem böse Person. Bösewichte handeln immer aus Ichsucht, er wird daher selbstsüchtig und eigennützig sein. Weiters wird unser Bösewicht ›ganz normal‹ aussehen, damit ihn der Held optisch nicht gleich als Böser entlarven kann. Wir verbergen also die Hinterhältigkeit des Schurken bewusst - es könnte jeder sein, der Kreis der Verdächtigen ist groß. Zudem wirken normal erscheinende Bösewichte wesentlich stärker auf Leser, sie machen bedeutend mehr Angst. Idealerweise ist der Bösewicht der nette Onkel von nebenan.
Unser Schurke wir natürlich clever und listenreich sein. Nur so hat es der Held schwer, ihn zu überführen.
Unser Schuft ist irgendwann in seinem bisherigen Leben tief verletzt worden. Jemand könnte seine Familie ermordet haben, er könnte zu unrecht verurteilt worden sein und vieles mehr. Aus diesem psychischen Schaden erwächst seine Motivation Böses zu tun wie Rache zu nehmen. Und unser Bösewicht wird Angst haben, erwischt zu werden.
Diese Überlegungen sind unser Ausgangspunkt, um einen lebendigen, dreidimensionalen Antagonisten zu erschaffen.
Wir beginnen am besten mit der Biografie unseres Schurken. Also mit seinem Leben von der Geburt bis zu jenem Zeitpunkt, an dem unsere Geschichte beginnt (Empfehlung: ichSCHREIBE, Martin Selle, eBook, Schreibpraxis in 100 Schreibregeln abgefasst; darin finden Sie Arbeitsblätter und schrittweise Checklisten unter anderem zum Figurenerschaffen).
Wir müssen für uns selbst, um unsere Figur gut kennen lernen zu können, erfahren, was in ihrer Vergangenheit geschehen ist (Vorgeschichte). Nur so können wir ein echtes menschliches Wesen erschaffen, eine Person, die aus eigenem Antrieb heraus handelt, eigennützig motiviert, um ein bestimmtes Ziel ganz sicher zu erreichen. Dieser Schurke wird clever und listig sein, eine dominante Leidenschaft besitzen, die ihn zum Handeln treibt und in seinem Leben seelisch tief verletzt worden sein - aber wir werden seine Boshaftigkeit geschickt vor dem Leser verbergen.
Namen sind nicht Schall und Rauch. Beginnen wir deshalb damit, unserem Schuft einen Namen zu geben. Sagen wir, er heißt Murdoch . Gut so. Der Name klingt düster, genau richtig für einen zu allem entschlossenen Bösewicht. Machen wir weiter mit seinem Vornamen: Simon . Passt, finde ich. Der Name ist soeben rein aus meiner Fantasie entsprungen. Keine Ahnung warum? Ich habe einen derartigen Namen noch niemals zuvor gehört. Aber so ist das beim Schreiben - fließende, unergründliche kreative Prozesse. Einigen wir uns also auf Simon Murdoch .
Wir wissen noch nicht, wo Simon lebt. Noch ist Simon ein bloßer Name auf dem Papier. Und das ist das Wunderbare am Schreiben, es beginnt ein spannender, fantastischer Prozess, von dem wir nicht wissen, wo er enden wird. Sind wir gespannt, wie sich Simon entwickelt. Wie auch immer, wir können jederzeit eingreifen und ändern.
Sehen wir uns nun Simons körperliche Erscheinung an. Lassen wir uns etwas dazu einfallen. Sagen wir so: Simon Murdoch ist ein sportlicher, kraftvoller Mann. Er ist sehnig zäh, einsachtundsiebzig groß und achtzig Kilo schwer. Er liebt den Boxsport, trainierte und fightete seit dem College. Seit einem unfairen Kampf, bei dem ihm sein Gegner einen Kopfstoß verpasste, ist seine Sehkraft auf dem linken Auge eingeschränkt. Seine blonden Haare sind stets kurz geschnitten, zu einer Stoppelfrisur. Seine braunen Augen liegen in tiefen Höhlen, er lächelt immer freundlich wie der nette Kellner im Restaurant. Er glaubt fest daran, früher schon einmal gelebt zu haben - als furchtloser Soldat im amerikanischen Bürgerkrieg.
Entscheiden wir, zu Beginn der Geschichte ist Simon achtunddreißig Jahre alt.
Seit diesem unsäglichen Boxkampf trägt er eine Brille, hat Probleme, Distanzen abzuschätzen. Sein Gang wirkt deshalb immer etwas unbeholfen, vorsichtig. Im Gesicht ist er entstellt, hat eine Narbe, die an der linken Nasenwurzel entlang Richtung Oberlippe läuft - sie rührt ebenfalls vom Kampf her, bei dem er in weiterer Folge schlimme Hiebe einstecken musste. Der Kampf fand während der Collegemeisterschaften statt.
So weit, so gut. Damit können wir uns Simon körperlich schon mal näher vorstellen.
Sehen wir uns nun an, wie er in die Gesellschaft eingebettet ist, seine Herkunft.
Wo ist Simon aufgewachsen? Entscheiden wir, er ist in einem Vorort von Philadelphia geboren und hat dort Kindheit und Jugend verbracht. Seine Mutter arbeitete in einem Friseursalon, sein Vater war LKW-Fahrer. Er hatte keine Geschwister. Seine Eltern stritten ständig miteinander, hatten die Köpfe nicht zusammen. Seine Mutter nahm Drogen, und sein Vater hatte eine ganze Menge Liebschaften, die er auf seinen Transportfahrten kennen lernte und in den Kneipen, in denen er mit seinen Baseballkumpeln rumhing. Er war immer ein Don Juan und er brauchte es für sein Selbstvertrauen, reihenweise Frauen zu verführen. Eines Tages geriet er an die Tänzerin einer Bar und brannte mit ihr durch. Simon war damals zwölf. Das verletzte ihn zutiefst. Er hatte einen Vater, der ein Versager war und der sich in keiner Weise um ihn scherte. Eine Situation, in der sich seine Mitschüler die Mäuler über ihn zerrissen - gnadenlos.
Simon hasste seinen Vater, weil er viele Frauen hatte und sich nicht um die Familie kümmerte. Und er hasste seine Mutter, weil sie nicht um ihre Familie kämpfte, schwach war und allem Elend zusah, sich stattdessen vollkiffte. Damals schwor Simon sich, niemals so erbärmlich zu sein, wenn er erwachsen ist.
Von Natur aus war Simon ein gutmütiger, sensibler Kerl, trotzdem schlummerte ein jähzorniges Temperament in ihm, das immer dann, wenn er ungerecht verletzt wurde, auf schrecklich brutale Weise mit ihm durchging. Bei einem Boxkampf, in dem ihm sein Gegner mit dem Ellbogen einen verbotenen Stoß gegen die kurze Rippe versetzte, geriet er daraufhin so in Rage, dass er den Gegner fast totschlug.
Zu dieser Zeit war Simons Welt noch in Ordnung. Sein Vater versuchte, für ihn da zu sein. Er förderte das Boxinteresse seines Sohnes, ermöglichte ihm eine Ausbildung in einem zweitklassigen Fightclub, brachte ihn zum Training und zu den Kämpfen, sah sich diese an und brachte ihn wieder nach Hause. In Simon steckte ein willensstarker Kämpfer, er trainierte übermäßig hart und erschuf sich so schnell einen Namen in der Kämpferszene. Seine Kameraden im Boxclub nannten ihn ›Ironfist‹ - die eiserne Faust. Später, als ihm sein Auge die Karriere vermasselte, empfand er es als eine Fügung des Schicksals.
Zur Zeit seiner Boxerfolge standen natürlich die Mädchen auf Simon. Er bildete sich nicht allzu viel ein darauf, genoss es aber, im Mittelpunkt zu stehen. Damals fühlte er sich dadurch nicht nutzlos. Zu einer ernsthaften Beziehung kam es nie. Wie auch, das immer mehr zerrüttete Verhältnis zwischen seinen Eltern färbte in Sachen Partnerschaft nicht positiv auf ihn ab.
So, nun wissen wir einiges über Simons gesellschaftlichen Status. Kommen wir nun zu seiner seelischen Dimension. Dass er Vater und Mutter hasst, wissen wir bereits.
Simon zog sich in eine innere Scheinwelt zurück, baute sich Luftschlösser.
Er war in der Schule Mittelmaß, interessierte sich vorwiegend für Naturwissenschaften. In dieser Zeit reifte sein Ziel, eines Tages ein weltberühmter Archäologe zu sein. Dieser Wunsch wird sein innerer, treibender Feuereifer. Oft lag er wach im Bett und malte sich im Geiste aus, wie er in Ägypten und Mexiko Funde von historischer Bedeutung machte, Funde, die unsere gewohnten Bilder über alte Kulturen in ein völlig neues Licht rücken. Dann würde er allen, die ihn jemals auf irgendeine Art und Weise unterschätzt und belächelt hatten, zeigen, dass er es nach ganz oben geschafft hatte.
Im Beruf des Archäologen sah er auch die Chance, all den Umständen zu entfliehen, die ihm Angst machten. Während der gesamten Collegezeit plagte ihn der Gedanke, den Abschluss nicht zu schaffen, zu scheitern. Was würde dann aus ihm werden? In der Boxmannschaft war er hoch angesehen, doch er wollte sich nicht ein Leben lang den Verstand aus dem Kopf prügeln lassen. Und in den höheren Kampfklassen nahmen die Kerle keine Rücksicht auf die Gegner im Ring, da hieß es überleben oder untergehen.
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