»Ja, weiß ich.«
»Du sagtest, du habest gleich …«
»… noch ganz andere schöne Formen für deine Hände.«
»Das klingt gut«, sagte er, und seine Finger gerieten dabei in sanfte Bewegung, als ertasteten sie ein imaginäres Wesen.
Marjet führte ihn durch einen breiten Eingang, der wie ein Maul unterhalb des Reliefs offen vor ihnen lag, in den Bauch des Schiffes. Sie gingen ein paar Stufen hinauf, bis sie auf eine Ebene gerieten, die Till an die nüchterne Eleganz einer Hotelhalle erinnerte. Durch die getönten Seitenfenster sah er auf die benachbarten Yachten. Sie standen hinter der Pelorus Jack, aufgebaut wie ein Hofstaat, der ergebenst auf Order seiner Königin wartete.
Über eine breite Treppe ging es fünf Stufen nach unten. Auf der letzten angekommen, blieb Till stehen. Er hatte das Gefühl, Marjet nicht sogleich folgen zu dürfen. Diese letzte Stufe war für ihn wie der VIP-Platz auf einer Tribüne, denn was er von hier aus sah, war ein modernes Palastambiente, das er wie ein Bild betrachten wollte. Mit jedem Schritt voran würde er selbst zur Requisite dieser Szene werden und deren Ausstrahlung unweigerlich verändern.
Ihm ging es nicht darum, detailliert die Möbel und Accessoires zu betrachten. Er wollte einfach kurz atmosphärisch in sich aufnehmen, was sich vor ihm ausbreitete: rechts über Eck eine Landschaft heller Lederpolster, davor runde Glastische. Ganz hinten links vor einem breiten Panoramafenster ein langer Tisch und Stühle aus mahagonibraunem Holz.
Till schaute zu der niedrigen, hellen Decke, in deren Glanz sich der Raum spiegelte und aus der heraus unzählige LED-Spots wie ein Himmel voller kleiner Sonnen die Salonwelt mit goldenem Licht beschienen. Was Marjet ihm zeigen wollte, hatte er ganz hinten, in der zweiten Hälfte des Salons, bereits wahrgenommen. Noch ging er aber nicht darauf ein, weil er es erst einmal für sich allein als Teil der Gesamtarchitektur erleben wollte.
Dann ging er langsam weiter. Mitten im Salon blieb er stehen, genau an der Stelle, wo der Himmel mit seinen zahllosen Sonnen zu Ende war und den Augen freien Blick bis hoch zur Decke der zweiten Etage gewährte.
Nun stand die Skulptur direkt vor ihm. Er streckte unweigerlich seine Hand nach ihr aus, wollte ihre glatte Haut, ihre athletischen Formen berühren und versuchte, in Marjets Gesicht zu lesen, ob er es durfte.
»Tu es«, sagte sie mit charmanter Gönnermiene, »auch darum sind wir schließlich hier.«
Till legte seine Hand auf ihren Rücken, ließ sie daran hinuntergleiten, immer weiter, bis zum Ansatz ihrer muskulösen Schwanzflosse. Dann blickte er über die gesamte Länge des schräg nach oben strebenden Delfins und fühlte sich von seiner geschmeidig kraftvollen Grazie regelrecht animiert, sich mit ihm in die Höhe zu strecken.
Marjet setzte sich mit dem Rücken zu einer langen Fensterreihe auf eines der Sofas. Sie lehnte sich zurück, und als Till sich nach ihr umsah, legte sie ihre Hand einladend neben sich auf das Polster. Er blieb noch einen Moment bei dem Meeresriesen. Dann setzte er sich zu ihr, um seine Wirkung aus einem anderen Blickwinkel zu prüfen.
»Er ist zwar im Wasser zu Hause«, sagte er nachdenklich, ohne seine Augen von der Skulptur zu lassen, »aber er sieht so aus, als wäre er auch hier völlig in seinem Element. So, als wäre dieser Raum ein Teil des Meeres, und er derjenige, der jede noch so schwierige Situation des Schiffes in den Griff kriegen kann.«
»Kompliment, Till!«
Er sah sie fragend an und wartete auf einen erklärenden Satz.
»Du hast das Wesen meines Freundes ziemlich genau auf den Punkt gebracht.« Dann zeigte sie zu dem Delfin und sagte: »Das ist nämlich Pelorus Jack.«
»Wie, die Skulptur ist nach dem Schiff benannt?«
»Umgekehrt. Das Schiff hat den Namen des Delfins.«
»Warum, was hat es denn damit auf sich?«
Marjet schlug ein Bein über das andere und begann, ihm die angeblich wahre Geschichte eines außergewöhnlichen Delfins zu erzählen. Er habe Ende des 19. Jahrhunderts in der Cook-Straße gelebt, einer 35 Kilometer breiten Meeresenge zwischen Neuseelands nördlicher und südlicher Insel.
»Damals gab es dort viele Schiffsunglücke, und die Seefahrer fürchteten diesen Bereich wie den Tod. Konkrete Gründe waren die vielen Untiefen, gefährlichen Strömungen und Felsen unter Wasser. Aber dann entdeckten die Schiffsbesatzungen dort einen außergewöhnlichen Delfin, einen mit ungewöhnlich heller Haut und weißem Kopf. Mit der Zeit fiel ihnen auf, dass er immer dann auftauchte, wenn Schiffe vom Pelorus Sound – das ist einer der ganz langen Meeresarme Neuseelands – auf die Cook-Straße zusteuerten. Außerdem stellten sie fest, dass dort nie ein Schiff in Seenot geriet, wenn dieser Delfin neben einem Schiff her schwamm und es etwa zwanzig Minuten begleitete. Die Seefahrer gaben ihm dann den Namen Pelorus Jack. Manche haben vor der Cook-Straße sogar auf ihn gewartet, um sicher durch die berüchtigte Zone zu kommen.«
Während Marjet erzählte, sah sie Till so an, als würde sie aus seinem Gesichtsausdruck lesen wollen, ob er ihr glaubte. Dann fiel ihr ein, wie sie ihn überzeugen konnte: »Ich glaube, es war 1903, da passierte etwas ganz Schreckliches: Irgendein besoffener Passagier sah Pelorus Jack und schoss auf ihn. Dieser Verrückte hat ihn zwar nicht getötet aber verletzt. Als die Mannschaft das mitbekommen hatte, war sie so geladen, dass sie den Kerl um ein Haar gelyncht hätte. Pelorus Jack versteckte sich dann und tauchte erst zwei Wochen später wieder auf.«
Marjet registrierte, dass er ihr mit höflich versteckter Amüsiertheit zuhörte und durchaus Lust auf noch mehr Seemannsgarn hatte.
»Der neuseeländische Staat ist jedenfalls nicht so ein Zweifler wie du. Nach dieser Attacke hat er im Jahr 1904 dafür gesorgt, dass Pelorus Jack geschützt wurde. Und zwar per Gesetz. Der Staat hat also für ein einzelnes Meereslebewesen ein Gesetz gemacht. So etwas hat es nie zuvor gegeben.«
»Und jetzt ist es diese Geschichte, die ihn unsterblich macht«, sagte Till mit Nachdenklichkeit und Respekt im Ton. So wollte er Marjet zu verstehen geben, dass er ihr wirklich glaubte.
»Nicht diese Geschichte. Das, was er getan hat, macht ihn unsterblich. Wäre er nicht gewesen wie er war, würde keiner seine Geschichte erzählen.«
»Und du wärst nie auf die Idee gekommen, aus ihm eine Bronze zu machen. Eine, die so viel Lebendigkeit zeigt, dass man glauben könnte, das Leben von Pelorus Jack würde nie enden.«
»Ja, da ist was dran. Irgendwie wünsche ich mir immer, dass solch eine Arbeit zu einer Art Momentaufnahme für die Ewigkeit wird.«
»Wie meinst du das?«
»Früher hat dieser Delfin die Menschen mit seiner Freundlichkeit und Treue so berührt, dass er in ihnen lebendig blieb – in ihren Gedanken und Geschichten. Und wenn ich es schaffe, dass mein Pelorus Jack bei den Leuten hier an Bord auch etwas bewegt, dann ist er wirklich unterwegs zur Ewigkeit. – Eine schöne Vorstellung, oder?«
Till stand auf, legte noch einmal seine Hand auf den Rücken des Delfins, als wollte er ein wenig von dessen kraftvoller Ewigkeit in seinen Sinnen mit nach Hause tragen, und sagte lächelnd: »Klar, dieser Gedanke hat was. Aber das ist ja noch nicht alles. Je mehr die Skulptur hier an Bord beeindruckt, desto deutlicher sind deine eigenen Spuren zu sehen.«
»Ich gebe zu, auch das ist ein attraktiver Gedanke für mich. Aber ja wohl für jeden. Wollen wir nicht alle Spuren hinterlassen?«
»Am liebsten schon«, sagte er, während er seinen Blick kurz auf den Teppich des Salons richtete. »Und am besten so tiefe Spuren, dass der Wind sie auch dann, wenn wir nicht mehr sind, noch lange nicht mit Sand verdecken wird.«
Er musste an den alten Mooshammer vom Attersee denken. Der hatte es geschafft, recht tiefe Spuren zu hinterlassen, lauter Erfolgsspuren. Aber wenn es stimmte, was seine Tochter gesagt hatte, reichte ihm das nicht. Womöglich würde er selbst im Tod nicht zur Ruhe kommen, wenn seine Nachkommen anfingen, ihre eigenen Abdrücke im heimatlichen Boden zu hinterlassen. Vielleicht zwang er seine Tochter und ihren Mann deshalb, exakt in seine Fußstapfen zu treten. Er glaubte wohl, dass nur so etwas von ihm über den Tod hinaus für alle sichtbar bleiben würde. Wenn das gelänge, würde er in der Erinnerung des Dorfes lebendig bleiben.
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