Während Till fragte, klingelte sein Handy. Es lag direkt vor ihm auf dem Schreibtisch. Als er den Namen Enno Casjens im Display las, wusste er sofort, dass dieser Anruf nichts Gutes zu bedeuten hatte. Enno war kein Telefonierer, es sei denn der Deich oder irgendein Genick war gebrochen. Eine Ahnung sagte Till, dass mit dem alten Jupp etwas passiert sein musste. Er stellte das Handy stumm und schob es von sich, bis an den Rand der Glasplatte. Für ein paar Augenblicke war er kaum bei der Sache, als die Frau vom Attersee ihm erklärte, worin ihr Mann und ihr Vater sich so sehr unterschieden.
»Mein Mann kann auch gut auf Leute zugehen und sich hinter der Theke auf alle Themen einlassen, aber es fällt ihm schwerer als meinem Vater. Mein Mann hat seine Stärken in der Küche und im Management. Darum sollte die Gästebetreuung vor allem meine Sache sein. Ich kann das und ich mag das auch.«
»Wo ist das Problem?«
»Das Problem ist, mein Vater erwartet von meinem Mann, dass er alles so macht wie er. Da er das so nicht kann und auch nicht will, ist er in seinen Augen ein Versager.«
Weil Till sich noch Notizen machte, gab es eine Stille, die die Frau bald mit trauriger Stimme brach: »Was meinen Sie denn, was ich machen sollte? Ich wünsche mir so sehr, dass alles wieder wird wie es mal war. Aber wie soll das gehen, wenn keiner redet!?«
Till sagte nichts, er brauchte noch ein paar Sekunden, um festzuhalten, was er gehört hatte, dann: »Frau Mooshammer, ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Aber sagen Sie mir, bevor wir einen Termin für ein weiteres Gespräch machen, was möchten Sie mit Ihrem Brief erreichen?«
»Können Sie mir denn helfen?«
»Das hängt von Ihrem Ziel ab.«
Da die Frau am anderen Ende der Leitung nachzudenken schien, sagte Till: »Vielleicht ist es in diesem Moment nicht ganz einfach, klar zu sagen, wohin die Reise gehen soll. Ich schlage Ihnen vor, dass wir uns heute in einer Woche noch einmal unterhalten. Für die Zwischenzeit habe ich eine Hausaufgabe für Sie. Eine ganz kleine. Und versuchen Sie bitte, dabei auszuschalten, dass Ihr Mann Sie verlassen hat. Denken Sie an früher! Und dann stellen Sie sich bitte folgende Fragen: Was hält einer wie mein Vater von meinem Verhalten als Tochter, Ehefrau und Unternehmerin? Was halte ich von mir, wenn ich an meine einstigen Pläne denke und daran, was daraus geworden ist? Und dann noch eine andere Aufgabe: Versuchen Sie bitte einmal, in die Haut Ihres Mannes zu schlüpfen. Ich glaube, Sie finden sich darin ganz gut zurecht. Sie kennen die Potentiale, die er mitgebracht hat, Sie kennen seinen einstigen Tatendrang, und Sie wissen, was er früher an Ihnen geliebt hat und für welche Eigenschaften Sie ihn verehrt haben. Führen Sie sich das bitte vor Augen. So offen wie möglich. Wenn es Ihnen recht ist, erzählen Sie mir in einer Woche, was Ihnen dazu eingefallen ist. Ich stelle Ihnen anschließend weitere Fragen. Sie werden dann bald wissen, in welche Richtung der Brief zu zielen hat.«
Nach diesem Gespräch blickte Till auf sein Handy, das immer noch stummgeschaltet vor ihm lag. Er zog es langsam zu sich heran, so als käme er nicht drum herum, sich nun mit einer scharfen Tretmine zu befassen. Enno Casjens hatte es nicht nur klingeln lassen, dieser einsilbige Mann hatte es auch für nötig befunden, eine Nachricht in die Mailbox zu sprechen.
Till wollte aber noch nicht hören, was Enno ihm zu sagen hatte. Er wollte zuerst zu Jupp, allerdings nur in seinen Gedanken. So stand er nun an dessen Krankenbett, blickte auf die verarbeiteten langen Finger des Mannes, die tatenlos neben seinem Körper auf dem weißen Bett lagen. Sie dort in diesem Zustand zu sehen, tat ihm nicht gut. Er überlegte kurz, ihm ins Gesicht, in die Augen zu schauen, aber dieser Gedanke machte ihm Angst. Wie würde er jetzt aussehen, dieser Mann, über den die Leute schon vor Wochen gesagt hatten, es stehe schlecht um ihn?!
Am liebsten hätte Till auf dem Absatz kehrt gemacht, aber das konnte er vor sich selbst nicht vertreten. Stattdessen verlegte er Jupp in den Reitstall, dorthin, wo er ohnehin nicht wegzudenken war. Hier sah er ihm gern in die Augen. Er hatte sogar das Gefühl, sie aufmerksam in den Blick nehmen zu müssen, denn sie erzählten ihm mehr über diesen hageren Alten, als der in seiner Schweigsamkeit über die Lippen brachte.
Für Till war es ein immer wiederkehrender Reiz, diesen Jupp zu beobachten. Das machte er häufig, wenn er seine Rappstute auf die Koppel geführt hatte. Anschließend nahm er sich etwas Zeit, lehnte sich auf die Holzstangen der Umzäunung und genoss es, ihr zuzusehen, wie sie mit anderen im donnernden Galopp über die Weide preschte. Seitlich davon, bei den zwei großen Stallgebäuden, tauchte Jupp immer irgendwann auf. Er gehörte zu dieser Hofanlage wie die 200 Jahre alten Eichen, die mit ihren hohen borkigen Stämmen wie Garanten für Verlässlichkeit dastanden. Keiner wusste, wo er seine Wurzeln hatte. Sein Zuhause war ein winziger Anbau, der wie angeklebt neben dem rechten Hauptstall stand. Niemand, der auf diesem Reiterhof verkehrte, hatte ihn jemals betreten. Auch Till nicht. Allenfalls Enno Casjens, der ebenfalls nicht viele Worte machte. Hundert Schritte entfernt wohnte er mit seiner Frau in einem alten, mächtig daliegenden Bauernhaus, von dem aus er die Stallgebäude und den wesentlichen Teil seines Besitzes im Blick hatte. Einen so schweigsamen Mann wie Jupp fragte niemand so leicht nach seiner Vergangenheit. Allen auf diesem Hof schien klar zu sein, dass die Geschichte seines langen Lebens viel zu umfangreich war, als dass sie in seine wenigen Wortbrocken gepasst hätte.
Während Till darüber nachdachte, fiel ihm Sarah ein, die Frau vom Parkplatz des Lamberti-Palais. Er fragte sich, warum sie ihm gerade jetzt in den Sinn kam. Vielleicht, weil er auch über sie so gut wie nichts wusste? Sie und Jupp, zwei Gegensätze. Ihm wurde in diesem Moment klar, wie sehr er den Mann mochte. Der hatte es nicht nötig, sich wortreich zu erklären. Was andere von ihm dachten, kümmerte ihn nicht. Er machte sich nicht wichtig, sondern war es einfach. Er ruhte in sich, war zufrieden, wenn er still aufpassen und mitbekommen konnte, wo Hand anzulegen war.
Kurz stellte Till sich vor, wie es wäre, wenn auch Sarah mit Worten geknausert hätte. Er wäre nicht auf sie aufmerksam geworden. Was sie draußen vor dem Toilettenfenster gesagt hatte, war in ihm noch fast wortgetreu vorhanden: »Nein, Ute, ich muss zu ihr. Es geht doch nicht, dass sie da so allein liegenbleibt. Ich möchte jetzt einfach bei ihr sein.« Er hatte keine Ahnung, wer die Frau war, für die sie auf dem Fest alles stehen und liegen gelassen hatte. Aber diese Frage beschäftigte ihn auch nicht.
Er dachte daran, dass Jupp sich ebenso verhalten hätte. Allerdings ohne so eindringlich warmherzige Worte.
Er blickte auf sein Handy, dann fiel ihm auf, dass er Jupp noch nie hatte rennen sehen. Der Mann bewegte sich fort wie ein Trecker, den man gedrosselt hatte. Aber mehr Tempo brauchte er nicht, er kam auch so immer rechtzeitig dort an, wo man ihn brauchte. Für gewöhnlich sogar, bevor sein Chef oder die vielen Freizeitreiter nach ihm riefen. Weil er da war, wusste Enno Casjens immer, dass auf seinem Hof alles seine Ordnung hatte. Er sah von sich aus, wann er die Pferdeboxen auszumisten hatte, sorgte im Winter auch nachts dafür, dass in eingefrorenen Pferdetränken das Wasser wieder fließen konnte, und immer war er es, der die Gerten fand, die Reiter im Sand des Paddocks verloren hatten. Jupp hob sie auf, ließ sie in seiner Wohnung verschwinden und rückte sie mit stillem Vergnügen wieder heraus, sobald ihn jemand fragte, ob er nicht zufällig eine gesehen habe.
Obwohl Till sich Zeit gelassen hatte, seine Mailbox abzuhören, spürte er nun Ungeduld, als die Automatenstimme ihm in gewohnter Langsamkeit mitteilte, dass er eine Nachricht erhalten hatte. Dann endlich die Stimme von Enno. Diesem Mann war es bislang nie in den Sinn gekommen, sich einer Mailbox mitzuteilen. Nun hatte er es doch getan. Aber nicht in seiner ihm vertrauten plattdeutschen Sprache. »Hier ist Casjens. Enno! – Ich wollte dir sagen, dass Jupp nu tot ist. Und dann noch, ob du wohl kommen kannst? Wegen Beerdigung und dem ganzen Kram. Du kennst ihn doch am besten. – Danke! Wiederhören!«
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