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Auf einer davon saß einsam ein Knabe neben einem schwachen
Feuer und las; und Scrooge setzte sich auf eine Bank nieder und
weinte, als er sein eigenes, vergessenes Selbst sah, wie es in
früheren Jahren war.
Kein dumpfer Widerhall in dem Haus, kein Rascheln der Mäuse
hinter dem Getäfel, kein Getröpfel des halbgefrorenen
Brunnentrogs hinten im Hof, kein Seufzer in den blattlosen
Zweigen einer verlassen trauernden Pappel, nicht das Knarren
der vom Wind hin und her bewegten Tür des Vorratshauses im
Hof, selbst nicht das Knistern des Feuers war für Scrooge
verloren. Alles fiel auf sein Herz wie erweichende Töne und löste
seine Tränen.
Der Geist berührte seinen Arm und wies auf sein jüngeres, in ein
Buch vertieftes Abbild. Plötzlich stand draußen vor dem Fenster
ein Mann in fremdartiger Tracht, mit einer Axt im Gürtel und
ein Mann in fremdartiger Tracht, mit einer Axt im Gürtel und
einen mit Holz beladenen Esel am Zaume führend.
»Was! Das ist ja Ali Baba!« rief Scrooge voller Freude aus. »Es
ist der alte, liebe, ehrliche Ali Baba. Ja, ja, ich weiß es noch.
Einst zur Weihnachtszeit geschah es, daß dieser verlassene
Knabe ganz allein hier saß, und er zum ersten Male wirklich
kam, gerade wie er dort steht. Der arme Junge! Und Valentin«,
fuhr Scrooge fort, »und auch sein wilder Bruder Orson, dort
gehen sie! Und wie heißt doch der, der mitten im Schlaf vor das
Tor von Damaskus gesetzt wurde?
Siehst du ihn nicht? Und der Stallmeister des Sultans, der von
den bösen Geistern auf den Kopf gestellt wurde, dort ist er ja
auch! Ha, ha, es geschieht ihm schon recht! Wer hieß es ihn
auch, die Prinzessin heiraten wol en!«
Scrooge mit vollem Ernst über solche Gegenstände reden zu
hören und mit einer zwischen Lachen und Weinen schwankenden
Stimme, dann auch sein vor Freude aufgeregtes Gesicht zu
sehen: das wäre für seine Geschäftsfreunde in der City gewiß
eine große Überraschung gewesen.
»Da ist ja auch der Papagei«, rief Scrooge, »der mit grünem Leib
und gelbem Schwanz, da ist er! Der arme Robinson, er rief ihn,
als er von seiner Inselumsegelung wieder nach Hause kam
›Robinson Crusoe, wo bist du gewesen?‹ Er glaubte, er träume,
aber das war der Papagei. Ha, dort läuft Freitag in der kleinen
aber das war der Papagei. Ha, dort läuft Freitag in der kleinen
Bucht. Es gilt das Leben. Hallo, hob, hal o!«
Dann sagte er mit einem schnel en Wechsel der Gefühle, der
seinem gewöhnlichen Charakter sehr fremd war: »Der arme
Knabe!«, und er weinte wieder. Dann wischte er sich mit dem
Ärmelaufschlag die Augen, steckte die Hand in die Tasche und
murmelte: »Ich wünschte - aber es ist jetzt zu spät.«
»Was willst du?« fragte der Geist.
»Nichts«, sagte Scrooge, »nichts. Gestern abend sang ein Knabe
ein Weihnachtslied vor meiner Tür. Ich wünschte, ich hätte ihm
etwas gegeben, weiter war es nichts.«
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Der Geist lächelte gedankenvoll und winkte mit der Hand. Dann
sagte er: »Laß uns ein anderes Weihnachtsfest sehen.«
Scrooges früheres Selbst wurde bei diesen Worten größer, und
das Zimmer etwas finsterer und schwärzer, das Getäfel warf
sich, die Fensterscheiben sprangen, Stücke des Kalkbewurfs
fielen von der Decke und das bloße Lattenwerk zeigte sich: aber
wie das alles geschah, wußte Scrooge ebensowenig wie ihr. Er
wußte nur, daß alles stimmte und sich ganz so zugetragen habe,
und daß er's nun wieder sei, der dort al ein sitze, während die
andern Knaben nach Hause gereist waren zur fröhlichen
Weihnachtsfeier.
Weihnachtsfeier.
Er las nicht, sondern ging wie in Verzweiflung im Zimmer auf und
ab.
Scrooge blickte den Geist an und schaute mit einem traurigen
Kopfschütteln und in banger Erwartung nach der Tür.
Da ging sie auf und ein kleines Mädchen, viel jünger als der
Knabe, sprang herein, schlang die Arme um seinen Hals, küßte
ihn und begrüßte ihn als ihren
»lieben, lieben Bruder«.
»Ich komme, um dich mit nach Hause zu nehmen, lieber
Bruder!« sagte das Kind, fröhlich mit den Händen klatschend.
»Dich mit nach Hause zu nehmen, nach Hause, nach Hause!«
»Nach Hause, liebe Fanny?« fragte der Knabe.
»Ja!« antwortete die Kleine in überströmender Freude. »Nach
Hause und für immer! Der Vater ist so viel freundlicher als sonst,
daß es bei uns wie im Himmel ist. Eines Abends, als ich zu Bett
ging, sprach er so freundlich mit mir, daß ich mir ein Herz faßte
und ihn fragte, ob du nicht nach Hause kommen dürftest -, und
er sagte ja, und schickte mich im Wagen her, um dich zu holen.
Und du sollst jetzt dein freier Herr sein«, sagte das Kind und
blickte ihn bewundernd an, »und nicht mehr hierher
zurückkehren; aber erst sol en wir alle zusammen das
Weihnachtsfest feiern und recht lustig sein.«
»Du bist ja eine ordentliche Dame geworden, Fanny!« rief der
Knabe aus.
Sie klatschte in die Hände und lachte und versuchte, bis an
seinen Kopf zu reichen; aber sie war zu klein, und lachte wieder
und stellte sich auf die Zehen, um ihn zu umarmen. Dann zog sie
ihn in kindlicher Ungeduld zur Tür, und er begleitete sie mit
leichtem Herzen.
Eine schreckliche Stimme im Hausflur rief: »Bringt Master
Scrooges Koffer herunter!« Es war der Lehrer selbst, der
Master Scrooge mit brutal hochnäsiger Herablassung anstierte,
und ihn in großen Schrecken setzte, als er ihm die Hand drückte.
Dann führte er ihn und seine Schwester in ein feuchtes,
fröstelnerregendes Empfangszimmer, an dessen Wänden
Landkarten und in dessen Fenster die Erd- und Himmelsgloben
vor Kälte glänzten. Hier brachte er eine Flasche merkwürdig
leichten Wein und ein Stück merkwürdig schweren Kuchen
herbei und regalierte die Kinder schonend sparsam mit diesen
auserlesenen Leckerbissen. Auch schickte er eine hungrig
aussehende Magd hinaus, um dem Postillion ein Gläschen
anzubieten, wofür dieser aber mit den Worten dankte, wenn es
von demselben Faß wie das vorige sei, möchte er lieber nicht
kosten. Während dieser Zeit war Master Scrooges Koffer auf
den Wagen 26
den Wagen 26
gebunden worden, und die Kinder nahmen ohne Rührung von
dem Schulmeister Abschied, setzten sich in den Wagen und
fuhren so schnel zum Garten hinaus, daß der Reif und der
Schnee wie Schaum von den immergrünen Gebüschen
hinwegstob.
»Sie war immer ein zartes Wesen, das von einem Hauch hätte
verwelken können«, sagte der Geist. »Aber sie hatte ein großes
Herz.«
»Ja, das hatte sie«, rief Scrooge. »Ich will nicht widersprechen,
Geist. Gott verhüte es.«
»Sie starb als Frau«, sagte der Geist, »und hatte Kinder, glaube
ich.«
»Ein Kind«, antwortete Scrooge.
»Ja«, sagte der Geist. »Dein Neffe.«
Scrooge schien unruhig zu werden und antwortete kurz: »ja.«
Obgleich sie die Schule kaum einen Augenblick hinter s ich
gelassen hatten, befanden sie s ich doch plötzlich mitten in den
lebendigsten Straßen der Stadt, wo schattenhafte Fußgänger
vorübergingen, wo gespenstige Wagen und Kutschen um Platz
stritten und wo das ganze wirre Leben einer wirklichen Stadt
stritten und wo das ganze wirre Leben einer wirklichen Stadt
herrschte. Am Aufputz der Läden sah man, daß auch hier
Weihnachten war; aber es war Abend und die Straßenlaternen
brannten.
Der Geist blieb vor dem Eingang eines Lagerhauses stehen und
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