Schritt öffnete sich das Fenster ein wenig, so daß es weit offen
stand, als das Gespenst es erreicht hatte. Es winkte Scrooge,
näher zu kommen, und er tat es. Als sie noch zwei Schritte
voneinander entfernt waren, hob Marleys Geist die Hand und
gebot ihm, nicht näher zu kommen. Scrooge stand still. Mehr aus
Überraschung und Furcht, als aus Gehorsam, denn wie sich die
gespenstige Hand erhob, hörte er verwirrte Klänge durch die
Luft schwirren und unzusammenhängende Töne der Klage und
Luft schwirren und unzusammenhängende Töne der Klage und
des Leides, unsäglich schmerzlich und reuevoll. Das Gespenst
hörte eine Weile zu und stimmte dann in das Klagelied ein; dann
schwebte es in die dunkle, kalte Nacht hinaus.
Scrooge trat an das Fenster, von Neugier fast zur Verzweiflung
getrieben. Er sah hinaus.
Die Luft war mit Schatten angefül t, die in ruheloser Hast klagend
hin und her schwebten. jeder trug eine Kette wie Marleys Geist;
einige wenige waren zusammengeschmiedet (wahrscheinlich
schlechte Minister), keiner war ganz 19
fessel os. Viele waren Scrooge während ihres Lebens bekannt
gewesen. Ganz genau hatte er einen alten Geist in einer weißen
Weste gekannt, der einen ungeheuren eisernen Geldkasten hinter
sich herschleppte und jämmerlich schrie, einer armen, alten Frau
mit einem Kind nicht beistehen zu können, die unten auf einer
Türschwel e saß. Man sah es deutlich, ihre Pein war, sich
umsonst bestreben zu müssen, den Menschen Gutes zu tun und
die Macht dazu auf immer verloren zu haben.
Ob diese Wesen in dem Nebel zergingen oder ob sie der Nebel
einhül te, wußte er nicht zu sagen. Aber sie und ihre
Gespensterstimmen vergingen gleichzeitig, und die Nacht wurde
wieder so, wie sie auf seinem Nachhauseweg gewesen war.
Scrooge schloß das Fenster und untersuchte die Tür, durch die
Scrooge schloß das Fenster und untersuchte die Tür, durch die
das Gespenst eingetreten war. Sie war noch verschlossen und
verriegelt wie vorher. Er versuchte zu sagen: »Dummes Zeug«,
blieb aber bei der ersten Silbe stecken, und da er von der innern
Bewegung, oder von den Anstrengungen des Tages, oder von
seinem Einblick in die unsichtbare Welt, oder von der
Unterhaltung mit dem Gespenst, oder der späten Stunde sehr
erschöpft war, ging er sogleich ins Bett, ohne sich auszuziehen,
und sank sofort in Schlaf.
20
Zweite Strophe
Der erste Geist
Als Scrooge wieder erwachte, war es so finster, daß er das
Fenster kaum von den Wänden seines Zimmers unterscheiden
konnte. Er bemühte sich, die Finsternis mit seinen Katzenaugen
zu durchdringen, als die Glocke eines Turmes in der
Nachbarschaft mit vier Viertelschlägen die volle Stunde
ankündigte. Er lauschte, um die Stundenschläge zu hören.
Zu seinem großen Erstaunen schlug die Glocke fort, von sechs zu
sieben, von sieben zu acht und so weiter bis zwölf; dann schwieg
sie.
Zwölf! Es war zwei vorübergewesen, als er sich zu Bett gelegt
hatte. Das Uhrwerk mußte falsch gehen.
Ein Eiszapfen mußte zwischen die Räder gekommen sein. Zwölf!
Er drückte an die Feder seiner Repetieruhr, um die verrückte
Glocke zu kontrol ieren. Ihr kleiner lebhafter Puls schlug zwölf
und schwieg.
»Was! Das ist doch nicht möglich«, sagte Scrooge. »Ich sol den
ganzen Tag und bis tief in die andere Nacht hinein geschlafen
ganzen Tag und bis tief in die andere Nacht hinein geschlafen
haben? Es kann doch nicht sein, daß der Sonne etwas passiert
und es mittags um zwölf ist?«
Mit diesen unruhigen Gedanken beschäftigt, stieg er aus dem
Bett und tappte nach dem Fenster. Er mußte das Eis erst
wegkratzen und das Fenster mit dem Ärmel seines Schlafrockes
abwischen, ehe er etwas sehen konnte; und auch nachher konnte
er nur sehr wenig sehen. Alles, was er bemerkte, war, daß es
noch sehr neblig und sehr kalt war, und daß man nicht den Lärm
hin und her eilender Leute hörte, was doch gewiß vernehmbar
gewesen wäre, wenn Nacht plötzlich den hellen Tag vertrieben
und von der Welt Besitz genommen hätte.
Das war ein großer Trost, weil Bedingungen wie »Drei Tage
nach Sicht bezahlen Sie diesen Primawechsel an Mr. Ebenezer
Scrooge oder dessen Order«
und so weiter bloße Vereinigte-Staaten-Sicherheiten wären,
wenn es keine Tage mehr gab, um danach zu zählen.
Scrooge legte sich wieder ins Bett und dachte darüber nach,
konnte aber zu keinem Schluß kommen. Je mehr er nachdachte,
desto verwirrter wurde er, und je mehr er sich bemühte nicht
nachzudenken, desto mehr dachte er nach.
Marleys Geist machte ihm viel zu schaffen. Immer, wenn er nach
reiflicher Überlegung zu dem festen Entschluß gekommen war,
das Ganze nur für einen Traum zu halten, flog sein Geist wie eine
das Ganze nur für einen Traum zu halten, flog sein Geist wie eine
starke vom Druck befreite Feder wieder in die alte Lage zurück
und legte ihm erneut dieselbe Frage vor, die er schon zehnmal
überlegt hatte: »War es ein Traum oder nicht?«
Scrooge blieb in diesem Zustand liegen, bis es wieder drei
Viertel schlug. Da besann er sich plötzlich, daß der Geist ihm
eine Erscheinung mit dem Schlag eins versprochen hatte. So
beschloß er wach zu bleiben, bis die Stunde vorüber sei, und
wenn man bedenkt, daß er ebensowenig schlafen, als in den
Himmel kommen konnte, war dies gewiß der klügste Entschluß,
den er fassen konnte.
21
Die Viertelstunde war so lang, daß es ihm mehr als einmal
vorkam, er müsse unversehens in Schlaf gefal en sein und die
Uhr überhört haben. Endlich vernahm sein lauschendes Ohr die
Glocke.
»Bim, bam!«
»Ein Viertel«, sagte Scrooge zählend.
»Bim, bam!«
»Halb«, sagte Scrooge.
»Bim, bam!«
»Bim, bam!«
»Drei Viertel«, sagte Scrooge.
»Bim, bam!« »Voll!« rief Scrooge freudig. »Und weiter nichts!«
Er sprach das, ehe die Stundenglocke schlug, was sie jetzt mit
einem tiefen, hohlen, melancholischen Klang tat. In demselben
Augenblick wurde es hel im Zimmer, und die Vorhänge seines
Bettes wurden geöffnet.
Ich sage euch, die Vorhänge seines Bettes wurden von einer
Hand weggezogen, und sich aufrichtend blickte Scrooge dem
unirdischen Gast, der sie geöffnet hatte, in das Gesicht. So dicht
stand er ihm gegenüber, wie ich jetzt im Geist neben euch stehe.
Es war eine sonderbare Gestalt, gleich einem Kind, aber doch
eigentlich nicht gleich einem Kind, sondern mehr wie ein Greis,
der durch einen wunderbaren Zauber erschien, als sei er dem
Auge entrückt und auf diese Weise so klein geworden wie ein
Kind. Sein Haar, das in langen Locken auf seine Schultern
herabwal te, war weiß, wie vom Alter, und dennoch hatte das
Gesicht keine einzige Runzel, und um das Kinn bemerkte man
den zartesten Flaum. Die Arme waren lang und muskulös, die
Hände ebenso, als läge in ihnen eine ungeheure Kraft. Seine
Füße, zart und fein geformt, waren entblößt, gleich den Armen.
Der Geist trug einen Talar vom reinsten Weiß; um seinen Leib
schlang sich ein Gürtel von wunderbarem Glanz. Er hielt einen
frisch-grünen Stechpalmenzweig in der Hand; aber in seltsamem
frisch-grünen Stechpalmenzweig in der Hand; aber in seltsamem
Widerspruch mit diesem Zeichen des Winters war das Kleid mit
Sommerblumen verziert. Das Wunderbarste aber war, daß von
seinem Scheitel ein heller Lichtstrahl in die Höhe schoß, der al es
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