Pat konnte sich kaum die Namen der drei Kinder merken. Er nannte sie Tick, Trick und Track. Obwohl zwei Mädchen dabei waren. Das Kleinste machte noch in die Windel. Die Älteste ging in die zweite Klasse und tanzte in einer Garde. Die Tanzgarden-Saison ging von Oktober bis März. Sonntags fuhr Fichte mit seiner Tochter zu Wettbewerben. Gestern war so ein Sonntag gewesen.
Um 6.00 Uhr früh war Treffpunkt an der Schule. Dann ging es mit einem Reisebus fast 200 Kilometer Richtung Osten. Spätestens um 8.30 Uhr musste die Mannschaft komplett gemeldet haben. Um 9.00 Uhr tanzte die erste Garde. Fichte setzt sich auf eine Bierbank. Eine von Hunderten. In einer schwach beheizten, stinkenden Turnhalle. Um 15.45 Uhr war die Mannschaft seiner Tochter dran. Der Auftritt dauerte drei Minuten und dreißig Sekunden. Es klappte alles prima, die Mannschaft gewann und qualifizierte sich damit für die deutschen Meisterschaften. Fichte war sehr stolz auf seine Tochter.
Pat hatte Angst davor, dass Tick deutsche Meisterin im Gardetanz werden könnte. Es wäre nicht gut für Fichte. Zu viel Stolz ist nicht gut.
Pat versuchte sich vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, wenn seine Tochter deutsche Meisterin im Gardetanz werden würde. Er hatte eigentlich eine blühfreudige Phantasie, doch in diesem konkreten Fall scheiterte er vollständig. Er konnte sich keine derartige Emotion vorstellen. Das erleichterte ihn irgendwie, machte ihn aber nicht glücklich.
Was macht Sie glücklich, Pat?
Ausnahmsweise war Pat unvorbereitet in die Sitzung gegangen. Seine Freundin schaute ihn böse an. Von der Seite. Als würde das jetzt was bringen.
Pat, was ist heute los mit Ihnen? Hatten Sie keinen guten Tag?
Doch, doch, ganz gut. Gut. Sehr gut. Ich war nur gerade in Gedanken.
An was haben Sie gedacht, Pat? Lassen Sie uns bitte teilhaben. Das ist ganz, gaaaaaaaanz wichtig. Ihre Partnerin möchte an Ihren Gedanken unbedingt teilhaben. Es hat eine ungemein festigende Wirkung, seine Gedanken zu teilen. Trauen Sie sich. Kommen Sie schon, Pat! Na los, an was haben Sie gedacht, wo waren Sie mit ihren Gedanken?
Pat war in Gedanken bei der Vierzehnjährigen Schwester von Fichtes Freundin gewesen. Und die Mutter war auch mit dabei. Und die große Schwester. Wenn er das jetzt sagen würde, wäre alles vorbei. Einmal nur, dachte Pat, ein einziges Mal nur die Wahrheit über die eigenen Gedanken sagen, nur einmal nicht zu lügen würde vollkommen ausreichen, um ein gesamtes Leben zu zerstören. Von seinem eigenen Leben ganz zu Schweigen.
Ich weiß nicht mehr, an was ich gedachte habe. Ich glaube an den HSV.
Pat, das ist sehr enttäuschend für mich. Und sehr verletzend für Ihre Partnerin. Wir versuchen hier, Ihnen zu helfen, für Sie da zu sein – und ich finde das wirklich bemerkenswert, wie sehr sich Ihre Freundin um Sie bemüht – wir versuchen also, Ihr Leben in den Griff zu bekommen, uns Sie denken an den HSV. Ich weiß gar nicht was ich sagen soll.
Dann sag doch einfach mal nichts. Nur dieses eine Mal. Dachte Pat.
Und sagte: Es tut mir leid, ich weiß auch nicht, was eben mit mir los war.
Der Therapeut ließ seinen Blick auf den einzigen Busen im Raume zur Ruhe kommen. Tief atmete er durch. Er schlug vor, das Thema auf die nächste Sitzung zu verschieben. Pat, sagte er, gehen Sie nach Hause und denken Sie darüber nach, was Sie heute falsch gemacht haben. Machen Sie sich Notizen. Bitte machen Sie sich Notizen. Es wäre wirklich hilfreich.
Was wohl passiert wäre, wenn er nicht HSV gesagt hätte, sondern Jesus Christus. Oder Scarlett Johansson. Oder die Wahrheit.
Pat dachte darüber nach, was er gestern falsch gemacht hat. Er machte sich Notizen. Es entstand ein Liste seiner Fehler des Vortags in ziemlich chronologischer Reihenfolge:
Zu früh aufgestanden. (8.00 Uhr ist zu früh. Viel zu früh.)
Falsches Frühstück! (Obst ist kein Frühstück.)
Joggen gegangen (Knieschmerzen)
Fenster putzen (vorher konnte man durchschauen, nachher konnte man durchschauen. Zeitverschwendung. Unverändert übrigens auch der Mann im Gebüsch. Mit Fernglas)
Scheiß Mittagessen
Scheiß Einkaufen im Scheiß Supermarkt mit Scheiß Arschlöchern überall
Zu wenig geraucht
Zu wenig Kaffee getrunken
Zu geschmacklose Pornos angeschaut
Vergessen, die Live-Pressekonferenz aus Hamburg anzuschauen (HSV TV)
Vergessen, Brot zu kaufen
Vergessen, dass Schatzi heute unbedingt Brot essen wollte
Vergessen, dass Schatzi beim Friseur war, und an den Haaren nicht erkannt, und also nicht zur schönen neuen Frisur gratuliert, die genauso schön ist, wie immer und auch genauso aussieht und überhaupt die gleiche Frisur ist wie seit zwei Jahren oder sieben.
Vergessen, dass Erklärungsversuche alles nur noch schlimmer machen
Vergessen, zu sagen tut mir leid
Zu viel geraucht
Zu viel getrunken
Zu viel Tom Waits gehört (und zu laut)
Zu spät ins Bett gegangen
Zum falschen Zeitpunkt auf Sex spekuliert
Nochmal zu geschmacklose Pornos angeschaut
Auf der Couch geschlafen (Rückenschmerzen)
Morgen mache ich mal den ganzen Tag was ich will, dachte Pat, als er mit der Liste fertig war. Er nahm es sich felsenfest vor.
Am nächsten Tag setzte er seine Pläne mit erstaunlicher Konsequenz um.
Er machte wirklich den ganzen Tag lang, was er wollte. Und Pat genoss jede Minute. Er fühlte sich wie bei einer Entspannungsmassage mit heißen Steinen.
Sie war arbeiten und danach beim Sport und dann noch mit den Fitnessstudiofreundinnen Wasser trinken in einer Öko-Bar.
Am späten Abend erstellte Pat hochzufrieden eine Liste mit den Fehlern dieses Tages; dieses sehr schönen Tages:
Es war nicht richtig, von ihrem Geld eine Xbox zu kaufen.
Deutlich zu geschmacklose Pornos angeschaut.
Es war nicht richtig, von ihrem Geld den Pizzadienst zu bezahlen (Mittags)
Ich hätte Sideny Sam nicht für Luis Holtby transferieren sollen (nach der Verletzung von Maxi Beister fehlt ein schneller Mann für die Außenbahn.)
Es war nicht richtig, von ihrem Geld den Pizzadienst zu bezahlen (Abends)
Dann legte sich Pat ins Bett, stellte sich schlafend, und wartete auf den nächsten Tag.
Es kam schlimmer als erwartet.
Sie ging nicht zur Arbeit. Sie rief an, sagte dass Sie Magen-Darm-Probleme habe und kotzte später wirklich ein bisschen. Aber mehr aus Wut.
Pat widersprach nicht, als sie ihm all seine Fehler auflistete. Ein schlechter Tag. Ein einziger schlechter Tag. Ein Rückfall, vielleicht. Pat kam nicht durch, damit. Er solle seine Sachen packen. Es sei ihre Wohnung. Sie sei nicht länger bereit, ihn auszuhalten. Und die Xbox bleibt hier. Mit Kassenzettel. Bis zum Nachmittag habe er Zeit. Es sei ihr egal, wohin er ginge. Es reiche.
Darauf hast Du doch die ganze Zeit gewartet. Dass ich den einen Fehler mache. Dass Du mich rauswerfen kannst und endlich in Ruhe mit dem Scheiß Therapeuten ficken kannst.
Deine Wahnvorstellungen sind unglaublich. Dein Niveau übrigens auch.
Ist recht, Schatzi, ist recht. Hör mir zu. Jetzt. Hör mir zu. Ich weiß, dass Du ihn bumst. Ich weiß, dass Du nicht im Fitnessstudio warst. Und nicht in der Öko-Bar. Du warst bei ihm in der Praxis. Keine Sorge, ich packe meine Sachen und verschwinde. Aber hör auf, die heilige Maria zu spielen. Bums ihn, meinetwegen. Ist bestimmt total spannend und totaaaaal wichtig, und danach könnt ihr in Euch reinhören und reflektieren und alles total gut finden. Wer von uns hat eigentlich einen an der Klatsche? Mein Gott, hör auf zu Heulen.
Es tut mir alles so leid, sagte sie, erschüttert von Heulkrämpfen.
Oh, sagte Pat. Er fand es schlimm, Wahnvorstellungen zu haben. Schlimmer aber fand er es, dass es diesmal keine Wahnvorstellung war, sondern die Realität. Dieser Moment hatte trotzdem etwas Erhabenes.
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