Nach einem halben Jahr schlichen sich die Spalten H und I in seine Träume. Pipelines und Projektpläne gesellten sich dazu, korrespondierten mit Potentialanalysen und machten dabei ungeheuerlichen Lärm. Seine Träume kamen in Gestalt von Powerpoint-Präsentationen daher, blendeten ihn mit Laserpointern und schlitzten ihm mit Teppichmessern den Kopf auf. Sobald er im Bett lag, erschienen ihm ellenlange to-do-Listen und hunderte von ungelesenen Emails. Er wollte sich herunterfahren, wie sein Notebook. Er wollte sich ausschalten. Aber die Excel-Tabellen leuchteten weiter.
Rotwein hatte eine Zeit lang geholfen. Nach einer Flasche wurde er so müde, dass die Gedanken an die Arbeit in den Hintergrund rückten. Die segensreiche Wirkung des Weines ließ aber nach einiger Zeit nach.
Pat begann damit, Schlaftabletten zu schlucken. Ein holländischer Pharmazie-Versandhändler belieferte Pat frei Haus. Ein Arbeitskollege hatte ihm den Lieferanten und auch ein spezielles Produkt empfohlen.
Pat begann sofort mit der Maximaldosierung.
In Kombination mit einer Flasche Rotwein.
Manchmal schlief er tatsächlich ein.
Seine Freundin schlief jede Nacht so tief wie ein Igel unter einem Laubhaufen. Mit Wattestöpseln im Ohr und mit einer Flugzeug-Schlafbrille. Er kämpfte ganz alleine gegen die Nacht. Sagenhafte Ohnmacht übermannte ihn; totale Unfähigkeit, einen klaren Gedanken zu fassen. Er lauschte den regelmäßigen Atemzügen seiner Freundin. Er beneidete sie. Es war Neid, der manchmal in Aggressivität umschlug. Dann hasste er sie, weil sie schlafen konnte. Und weil sie ihm nicht erklären konnte, wie sie das anstellte.
Irgendwann riss ihn dann der unangenehm piepsende Wecker aus der lethargischen Schlaflosigkeit. Vergeblich versuchte die Dusche ihn zu beleben. Nur warmes Wasser. Auch der Kaffee biss sich an ihm die Zähne aus.
Guten Morgen Schatz, sagte seine Freundin.
Ich muss los, sagte er.
Ein schneller Kuss, nicht mehr. Dem Schmerz keine Bühne bieten.
Der Dienstwagen wartete in der beheizten Tiefgarage. Wurzelholzambiente mit Vanilleduft. Musik von Trio. Gib mir Energie , schrie Stephan Remmler. In der Mittelkonsole lauerte ein Röllchen Ritalin auf seine Chance. Nur noch heute. Und nur eine. Noch drei Tage bis zum Wochenende.
Ulm schlug das Navigationssystem vor. Doch Ulm war gestern.
F wie Fulda, 314 Kilometer, zwei Stunden irgendwas. Eine Pinkelpause mit Espresso, zwei sehr lange Baustellen, eine Abstandsmessung.
Gib mir Energie!
Die Führungsetage kam wie immer etwas später. Rosa Schälchen wehten durch den Raum. Die Rasierwasserfetischisten verpesteten die Luft. Eine bunte Mischung aus unsympathischen, unsympathischen und unsympathischen Menschen.
Alle trugen sie die gleichen Klamotten und Accessoires. Alle sahen aus wie Schaufensterpuppen. Eingefrorenes Lächeln, unnatürliche Hautfarbe. Nur fetter waren sie, viel fetter als die Schaufensterpuppen. Sie waren sich ihrer Lächerlichkeit nicht bewusst. Sie glaubten daran, dass erfolgreiche Menschen genau so aussahen wie sie. Die Schälchen machten Pat am meisten zu schaffen. Von einem Tag auf den anderen, so war es Pat vorgekommen, erschienen all diese Trottel mit Schälchen. Warum taten sie das? Weil in Werbeheftchen Bilder von schönen Männern mit Schälchen abgedruckt wurden? Es war zum Verzweifeln. Einer der dümmsten von allen setzte sich neben Pat.
Ah, da ist ja noch ein Plätzchen für mich, hatte der Idiot gesagt.
Weil Pat nichts sagte, und wohl auch, weil er fassungslos schaute, fühlte sich der Controlling-Experte genötigt noch einen Satz nachzuschieben.
War Stau gewesen, total der Stau!
Pat ahnte, dass furchtbare Stunden auf ihn zukamen. Die Aussichtslosigkeit seiner Lage bereitete ihm körperliche Schmerzen. Er überlegte ernsthaft, einen Migräne-Anfall vorzutäuschen, oder Magen-Darm-Probleme. Begeistert von dieser Idee ließ er lautlos einen ziehen. Zehn Sekunden später schaute er den Controlling-Experten entrüstet an.
Ein Lichtstrahl warf das Firmenlogo an die Wand.
Der Vorstand persönlich übernahm die Begrüßung.
Die Agenda war vollgepackt mit hohlen Schlagwörtern.
Der Vorstand faselte irgendwas von einem straffen Zeitplan . Zwanzig Minuten hatte er sinnentleerte Weisheiten zum total spannenden Thema Zeitmanagement vor sich hin gesabbert, eher er den ersten total spannenden Vortrag ankündigte.
Wir müssen ein Stück weit nachhaltiger sein, als der Wettbewerb.
Sagte mit vollem Ernst ein volljähriger, vor dem Gesetz zurechnungsfähiger Mann mittleren Alters und unbestimmter sexueller Ausrichtung. Er ließ seinen Satz wirken. Blickte seinen Zuhörern der Reihe nach in die Augen. Sein rosa Schälchen verbarg den dicken Hals. Pat schaute in seine Kaffeetasse.
Meine Herren, sagte der nachhaltige Schalträger dann, es gibt viel zu tun. Ich wünsche Ihnen dabei viel Erfolg!
Lustlos klopften die Zuhörer ein wenig auf den Tischplatten herum.
Der Idiot bedankte sich.
Jeder wusste, dass nur auf den Tischen herumgeklopft wurde, damit der Vorstand nicht wieder beleidigt war. Es war ihm immer ganz wichtig , dass dem Vortragenden Anerkennung kundgetan wurde.
Pat hielt den zweiten Vortrag. Er war gähnend langweilig.
Dann war Kaffeepause.
Ein sehr interessanter Vortrag, sagte ein Kollege anerkennend.
Er schämte sich nicht dabei.
Vielleicht fand er es tatsächlich interessant? Undenkbar.
Es wurde schon langsam dunkel, als Pat wieder in die Wurzelholzkapsel zurückkehrte, um mit weit über 200 km/h nach Hause zu rasen.
Hallo Schatz, sagte seine Freundin. Wie war Dein Meeting?
Tja, sagte Pat, lief ganz gut. Bin ziemlich erledigt. Muss morgen auch wieder früh los. Und bei Dir?
Bei ihr war alles gut gelaufen. Sehr gut so gar. Klasse Feedback vom Chef. Super Projektverlauf. Und mittags mit Susi im Salz & Pfeffer . Ganz toller Zander. Sagt mal, ist alles in Ordnung bei Dir?
Bisschen müde, Süße, das ist alles. Ich glaub ich leg mich gleich hin.
Willst Du nicht noch was essen? Es sind noch Nudeln da, von gestern.
Ich hab keinen Hunger.
Du musst doch was zu Abend essen.
Ich war im Drive-In auf der Heimfahrt. Juniortüte.
Kein Wunder, dass Du immer so schlapp bist. Das ist Dein blödes Fastfood.
Ist gut, Süße. Das halt ich jetzt nicht aus. Ehrlich. Ich weiß, dass Du Recht hast. Ist das ausreichend?
Manchmal frag ich mich, wie alt Du bist.
Ich benehme mich wie ein Pubertierender an einem schlechten Tag, auch das weiß ich schon, auch das. Ich rauch jetzt noch kurz, und dann leg ich mich hin. Du bist herzlich eingeladen, mit unter die Decke zu kommen.
Aber sie war nicht unter seine Decke gekrochen. Gewartet hatte sie, noch einige Stunden, erst dann ging sie ins Bett. Auf ihre Seite. Unter ihren Laubhaufen.
Pat betrachtete sein Werk. Im weißen Marmor spiegelten sich die Pflanzen. Saubere Arbeit. Und jetzt das Bad. Oder rauchen.
Ein Eichhörnchen schlich sich in das Gebüsch und legte eine Nuss in eine kleine Senke. Der Mann mit dem Fernglas nahm keinerlei Notiz.
Es muss unglaublich langweilig sein, dachte Pat, ausgerechnet mich zu observieren. Er überlegte, ob er dem Beobachter zuliebe irgendetwas Überraschendes tun sollte. Es fiel ihm nichts ein.
Bis er die Walnüsse in der Porzellanschale liegen sah. Er suchte sich ein aerodynamisches Exemplar aus und ging zu seinem Lieblingsfensterplatz. Ohne Eile öffnete er das Fenster, holte weit aus und warf die Walnuss über die Straße ins Gebüsch. Eine Joggerin lief durchs Bild und tippte sich kopfschüttelnd mit dem Zeigefinger an die Stirn. Ein herrenloser Rauhaardackel schnupperte am Bürgersteig. Pat schloss das Fenster wieder und ging rauchen.
Im Büro haben sie ihm das Rauchen verboten. Er hatte bis zur zweiten Abmahnung weitergeraucht. Um schließlich auf Drängen seiner Freundin klein beizugeben, seinen Job zu behalten und fortan auf dem Klo zu rauchen. Er war viel auf dem Klo, damals. Manchmal rauchte er gleich zwei hintereinander.
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