„Ein Mann muss hart sein, unnachgiebig und zielbewusst“, war einer von Großvaters axiomatischen Sätzen, die von seinen Enkeln und ganz besonders von Tommy aufgesogen wurden und längst zu ihrer Maxime geworden waren.
Walter Bunzlau war es nie gelungen, ein rechtes Verhältnis zu seinem Vater herzustellen. Seit eh und je nörgelte der Alte an ihm herum, zieh ihn des zähflüssigen Denkens und nannte ihn oft einen Weichling, mit dem kein Krieg zu gewinnen sei. Mit 16 Jahren hatte Walter Bunzlau angefangen, sich für die Oberweiten und die weiße Glätte der Schenkel des weiblichen Geschlechtes zu interessieren und hatte sich, selbst von stattlicher Physiognomie und nennenswerter Vitalität, zu einem Schürzenjäger entwickelt. Das blieb er, bis der Tod seiner Frau vor drei Jahren, die ihm mehr bedeutet hatte, als er sich vorher bewusst gewesen war, ihn die Liebe zu einem anderen Partner lehrte: Zum Alkohol.
Anton Bunzlau, der stattliche Großvater, billigte die Haltung seines Enkels Tommy, die dieser seinem Vater gegenüber an den Tag legte, manchmal unterstützte er sie sogar. Horst, zu dem der Großvater eigentlich überhaupt keine Beziehung hatte, weil er der Meinung war, man wisse nie, ob dieser Fisch oder Fleisch sei, konnte bei allen Bemühungen niemals dieses Maß an Zuneigung und Wohlwollen des Großvaters erreichen wie es Tommy möglich war, obwohl ihm sehr viel daran lag. Diese Tatsache ließ Horst oft neidisch auf seinen Bruder sein, was Tommy mit seinem ausgeprägten Sinn für menschliche Schwächen merkte, und es ihn genießen ließ.
Seit zwei Wochen hatte Tommy ein Wissen — und damit Macht — über Horst erlangt, wofür er dem Zufall dankbar war. Tommy wusste, dass er mit diesem Wissen das kleine Quäntchen Achtung, das Horst sich bei ihrem Großvater sprichwörtlich erkämpft hatte, vernichten konnte — und voraussichtlich nicht nur die Achtung des Großvaters. Horsts Gedanken kreisten um den einen Punkt: Wie komme ich bloß aus diesem Schlamassel wieder heraus? Abgesehen davon, dass er seinem Bruder ständig Geld zustecken musste, war zu fürchten, dass Tommy ihn, früher oder später, auch noch zu anderen Dingen erpressen würde. Er kannte seinen Bruder. Nach dem Telefongespräch war der Fernseher ausgeschaltet geblieben, und umso deutlicher war das Prasseln des Regens zu hören. Horst war in Weltuntergangsstimmung.
„Was hast du denn Brüderchen?“ fragte Tommy spöttisch. „Bist du traurig, dass dein Freund nicht kommen kann?“ Horst warf ihm einen gequälten Blick zu.
„Heute bist du wieder oben auf, aber gestern hättest du schlecht ausgesehen, wenn ich nicht dazu gekommen wäre; hast du das schon vergessen?“ Tommy blinzelte seinen Bruder an. „Der Türke hätte Hackfleisch aus dir gemacht“, setzte Horst noch hinzu. Tommy grinste zurück.
„Hat er aber nun mal nicht. Aber warte ab, was ich noch mit ihm mache. Ausländerpack!“
„Pass lieber auf, dass du dir nicht die Finger verbrennst“, mahnte Horst, „der ist kein kleiner Junge wie dieser Martin, der dich beleidigt hatte.“
„Er hat Addi beleidigt, aber das kommt aufs Gleiche raus. Wer meine Freunde beleidigt, der beleidigt mich.“
„Manchmal tust du so, als würdest du ihn persönlich kennen“, sagte Horst, „und außerdem, glaubst du denn, er wäre damit einverstanden, von dir Addi genannt zu werden?“
Tommy gab seinem Ton eine Nuance von Wichtigkeit: „Soll jeder wissen, von wem ich spreche? Ich wüsste schon, wie ich ihm gegenübertreten müsste. Ich kenne 'Mein Kampf' rauf und runter.“
„Ich weiß, ich weiß“, lenkte Horst ein, „ich schließlich auch.“ Er fragte sich, ob Tommy wirklich alles verstanden hatte, was in diesem Buch stand. Aber andererseits kannte er die Auffassungsgabe seines Bruders, die ihm schon oft unheimlich erschienen war.
„Hotte.“
„Mmh.“
„Ich habe es mir überlegt, ich will gar nicht mehr in eurem Heimatschutzverein aufgenommen werden; ihr mit euren Statuten: Mindestens 14 Jahre alt und was nicht alles; ihr könnt mich mal, ich baue mir meine eigene Truppe auf!“
„Das traue Ich dir zu“, meinte Horst, „bei Gott, das traue ich dir zu.“
„Das darfst du auch“, Tommy tat selbstsicher, „und wenn die Truppe steht, dann bringe ich dieses lahme Provinznest auf Vordermann!“ Nach einigen Minuten des Schweigens nahm Tommy den Faden wieder auf: „Sag mal Hotte, was da neulich in der Zeitung gestanden hat, das war doch wohl reichlich übertrieben, oder? 'Rowdygruppe macht Stadt unsicher', nur weil ihr auf der Kirmes ein wenig herumgeballert habt“
Horst grinste amüsiert. „Bei dem Blatt ist das doch kein Wunder. Na ja, sind Gott seit' Dank nicht alle gegen uns. Wir haben mit den Schießbudenknarren ein wenig auf die Raupenfahrer geschossen, aber da sitzt ja nichts hinter. Nur Scheiße, dass Robert unbedingt die Fahne rausholen musste. Jetzt weiß natürlich jeder, dass wir damit zu tun hatten.“
6
Ein junger Journalist, der sich vorgenommen hatte, Näheres über den Heimatschutzverein zu erfahren, traf eines der Mitglieder in einer Gaststätte, die ein bekannter Treffpunkt des Vereins war. Auf gut Glück sprach er Robert einfach an.
Journalist: „Kann ich Sie einen Moment sprechen?“
Robert: „Was wollen Sie?“
Journalist: „Nun, Sie sind offensichtlich ein führendes Mitglied des hiesigen Heimatschutzvereins. So ein Mann ist für die Zeitung immer interessant.“
Robert, der sich geschmeichelt fühlte: „O.K., schießen Sie los.“
Journalist: „Hatten Sie mit der Schießerei auf der Kirmes etwas zu tun?“
Robert: „Kein Kommentar.“
Journalist: „Ich sehe, Sie lesen die 'Deutsche Nationalzeitung'?“
Robert: „Im Moment trage ich sie nur unter dem Arm, aber davon abgesehen, ich lese sie auch.“
Journalist: „Würden Sie mir sagen, woraus unter anderem die Hauptbeschäftigung in ihrem Verein besteht?“
Robert: „Mann, weißt du, dass du ein ziemlich neugieriges Bürschchen bist? Aber, na gut: wir gehen ins Gelände und härten uns ab, und wir machen Heimatabende.“
Journalist: „Und was gefällt Ihnen am besten in Ihrem Verein?“
Robert: „Na die Kameradschaft, und dass wir nicht so schlapp sind wie die Typen, die in Discos rumhängen. Klar?“
Journalist: „Es kann doch sicher jeder bei Ihnen aufgenommen werden?“
Robert: „Mensch, bei uns zählt jeder gleich; da kommt’s nur drauf an, was für ein Kerl du bist. Ob du gehorchst! Bedingungs- los! Wenn mit dir was anzufangen ist, dann bist du ganz schnell oben, dann befiehlst du.“
Journalist: „Würden Sie mir sagen, wie Sie zur Bundesrepublik stehen...?“
Robert: „Pass auf Mann, Deutschland muss wieder das Alte in den Grenzen von 1914 werden, aber mit der Ostmark und dem Sudetengau! Das Altreich haben uns die Finanzsäcke in England und Amerika und die Juden und die Kommunisten in zwei Weltkriegen geklaut. Solange wir das nicht wiederhaben, ist alles Scheiße hier!“
Journalist: „Hm - kann schon sein, aber was werden die Russen und die Polen, und weiß der Himmel wer noch alles dazu sagen?“
Robert: „Mann, wollen Sie mich flachsen? Was redest du für einen Blödsinn? Was soll'n die sagen. Logisch, dass denen das nicht passt, dazu müssen wir sie eben zwingen!“
Journalist: „Zwin... eh - nun.- ich meine, wie denn das?“
Robert: „Na, es müssen sich alle nationalen Menschen in allen Ländern zusammentun. Klar? Ja, und dann müssen wir gegen die Bonzen aufstehen und unsere Forderungen stellen; und wenn die nicht wollen, dann werden sie an die Wand gestellt! Klar?“
Journalist: „Natürlich, vollkommen klar. Eh - meinen Sie, dass alle Mitglieder Ihrer Gruppe so denken?“
Robert: „Ich will dir was sagen: Wir haben ein Programm, das bekennt sich zum uneingeschränkten Führerprinzip, zur Volks- und Arterhaltung, und zu der Forderung nach Lebensraum.“
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