„Hör auf zu schlagen, dann lasse ich dich los“, sagte er selbst schon etwas außer Atem gekommen. Der Junge hatte ein furienhaftes Stadium, den Höhepunkt der Raserei erreicht, in dem der Mensch, bar jeder noch so infantilen Vernunft, seinem urinstinktiven Aggressions- und Vernichtungswillen erliegt.
„Du Bastard, du Hund, ich bringe dich um“, schrie er das distanzierende Sie vergessend mit hysterischer Stimme. Irgendwie gelang es dem Jungen, seinen linken Arm, um dessen Handgelenk die stählerne Faust seines überlegenen Gegners gepresst war, in die Höhe seines Gesichtes zu bringen und seine Zähne in die weiche Stelle des Handrückens zu schlagen. Mit affenhafter Vehemenz biss er zu und spürte fast im gleichen Moment den widerlichen Geschmack von rohem Fleisch in seinem Mund, zersetzt mit der ekelhaft lauen Wärme des fremden Blutes.
Der Besitzer der geschundenen Hand, schockiert von dem stechenden Schmerz, stieß einen lauten Schrei hervor und löste im selben Moment seinen Griff. Er musste seine Hand regelrecht aus dem Gesicht des Jungen herausreißen, wobei durch dessen satanisch zähes Festhalten eine offene Wunde entstand. Nun geriet auch der Mann, der bis dahin einen Rest seiner Distinguiertheit bewahrt hatte, in impulsive Wut. Ohne groß auszuholen, aber trotzdem mit gehöriger Wucht, gab er dem Bengel eine Ohrfeige, dass es voll und satt klatschte. Der Junge drehte sich halb um seine eigene Achse, als wolle er sehen, was hinter ihm vorging, und fiel über seine eigenen Beine in den Staub des Bürgersteigs, auf dem sich die ganze Szenerie entwickelt hatte.
Aus der Traube von Zuschauern, die sich inzwischen noch um einiges vergrößert hatte, löste sich plötzlich ein junger Mann mit kurzem Haarschnitt und militantem Auftreten. Er schritt, Kampflust in den Augen, auf den verletzten, vermeintlichen Kindesmißhandler zu. Es war der Bruder des wilden Jungen, der während seiner Mittagspause von seiner Arbeitsstelle, einem Sportgeschäft auf derselben Straße, nach Hause ging. Er war von der Menschenansammlung angezogen worden und hatte in der wütenden Furie seinen Bruder erkannt. Mit einer schnellen Bewegung umklammerte er von hinten den angeschlagenen, aber noch immer gepflegt wirkenden Herrn und rief seinem Bruder, der längst wieder auf den Beinen wer, eindeutige Aufforderungen zu:
„Los Thomas, mach ihn fertig, ich halte das Schwein fest! Na los, gib‘s ihm!“
Noch ehe jemand einschreiten konnte, versetzte der vor Wut und Hass schäumende Junge dem momentan perplexen und wehrlosen Mann einen Tritt in den Unterleib. Der so gequälte, ursprüngliche Schlichter eines Streites, stöhnte schwer getroffen auf und sackte in den Armen des großen Bruders zusammen. Sein Oberkörper hing schlaff nach vorn und es sah aus, als ob er das Bewusstsein verloren hätte, was bei einem solchen Tritt auch niemand hätte wundernehmen können. Der kleine Teufel witterte seine Chance zur vernichtenden Rache. Wie herbeigezaubert hatte er plötzlich einen gänseeigroßen Stein in der Hand, mit dem er sich nun anschickte, auf den Kopf des Gegenstandes seines Hasses einzuschlagen. Welch wundersame Fügung jedoch, die nun endlich die sensationslüsterne Stimmung der Zuschauenden in einen Zustand der Besorgnis umwandelte. Plötzlich schienen die Leute die Gefahr zu spüren, die von dem Kinde ausging. Buchstäblich im letzten Augenblick gelang es einem alten Mann, mit einem Spazierstock dem Bengel den Stein aus der Hand zu schlagen, wobei er den Unterarm des Jungen aufs Empfindlichste traf. Dieser schrie auf und wollte sich nun auf den alten Mann stürzen. Geistesgegenwärtig hob der alte Mann seinen Stock zum zweiten Male und versetzte dem Angreifer einen Schlag auf die rechte Schulter. Unterdessen hatte der große Bruder der kleinen Furie den schlaffen Körper des gequälten Widersachers fallen lassen. Er forderte seinen Bruder, dessen Arm schlaff herabhing und der unfähig zu jeder Angriffsaktion geworden war, auf, den Ort des Geschehens jetzt flugs zu verlassen. Denn er spürte sehr wohl, dass inzwischen alle Sympathien der Zuschauer umschlugen und sich gegen ihn und seinen Bruder richteten.
„Komm wir verschwinden!“ rief er und begann im Laufschritt den Kampfplatz hinter sich zu lassen, wobei der Kleine hinter ihm her trabte.
„Mensch, Horst, gut, dass du gekommen bist. Dieser Hund hatte eine tierische Kraft“, keuchte Thomas seinem älteren Bruder zu, während sie nunmehr nebeneinander die Straße entlang in Richtung auf ihr Elternhaus zu hasteten .
„Auf jeden Fall hat der Türke genug, Den hast du voll getroffen, Tommy“, gab Horst zu bedenken, „der steht so schnell nicht wieder auf.“
„Was sagst du, Türke, wieso Türke?“ Tommy stutzte und verminderte unversehens seinen Laufschritt.
„Ich kenne ihn“, sagte Horst, indem er nun gemäßigten Schrittes seinen Weg neben seinem Bruder fortsetzte. „Er hat ein Restaurant in der Bebelstraße. Gar kein schlechter Laden, aber eben ein Stinktürke. Ich würde da nicht essen gehen.“ Er zog dabei ein Gesicht, das Verachtung ausdrücken sollte. „Aber sag mal“, wollte er nun wissen, „wie bist du mit dem Kerl zusammengerasselt, was hast du mit dem zu tun?“ Tommys Wut schien wieder aufflackern zu wollen. Seine Augen blitzten bei dem Gedanken an das Auftauchen des Mannes.
„Dieses Schwein“, begann er seine Erklärung, „hat sich einfach eingemischt, als ich so eine Kröte aus unserer Schule vermachen wollte. Gerade wollte ich der Rotznase den Rest geben, weil sie mich beleidigt hatte, da war auf einmal der Kerl hinter mir und zog mich am Kragen zurück.“ Er habe im ersten Moment gar keine Luft mehr bekommen, setzte er seinen Bericht fort, und die Kröte, die ihn zu beleidigen gewagt habe, sei natürlich auf und davon. Aber um den wolle er sich noch kümmern das habe Zeit. „Und den Türken, den nehme ich mir auch nochmal vor“, erklärte Tommy seinem Bruder, „der wird noch an mich denken. Wo kommen wir denn da hin, wenn wir uns von jedem anfassen lassen, und noch dazu von einem dreckigen Türken?“ Er holte tief Atem. „Mann“, stieß er hervor, „das hätte ich wissen müssen, dass das ein Türke ist. Die Eier hätte ich ihm abgerissen. Aber der wird noch bereuen, dass er mir begegnet ist!“
4
Inzwischen hatte sich die Menschenansammlung aufgelöst, wie bei einem plötzlichen Stimmverlust eines Propagandisten. Man erinnerte sich daran, dass man schließlich Besseres zu tun habe, als in der Gegend herumzustehen und sich Zänkereien anzusehen.
Nur die Frau mit dem ärmlichen Mantel, die den eleganten Herrn gebeten hatte, dieser brutalen Auseinandersetzung ein Ende zu machen, war noch am Ort des Geschehens und sprach hilflos, sich für die verhängnisvolle Entwicklung der Auseinandersetzung verantwortlich fühlend, auf den arg traktierten Mann ein. Dieser hatte sich aber schon wieder ganz gut erholt; er schien überhaupt über eine gute Konstitution zu verfügen. War er doch unmittelbar nach dem Verschwinden seiner brutalen Gegner von den schmutzigen Steinfliesen des Bürgersteigs aufgestanden, um fast fidel seine Kleidung von dem haftengebliebenen Staub zu befreien.
„Bitte, verzeihen Sie mir, mein Herr, aber ich konnte ja nicht wissen, dass so etwas - ach - dass so etwas passieren würde. Oh mein Gott, ich hätte Sie dann doch nie gebeten, dem Jungen zu helfen.“ Die Tränen standen der Frau im Gesicht und es hatte etwas Rührendes, wie sie sich um den Mann sorgte und ihm half, seinen Anzug zu reinigen. „Und Ihre Hand! Um Himmels Willen, sie muss behandelt werden. Sie müssen ins Krankenhaus.“ Der Mann zeigte ein freundliches Lächeln.
„Aber, ich bitte Sie, liebe Frau, das kommt schon alles wieder in Ordnung!“ Die Frau hatte sich etwas beruhigt. Vielleicht, weil die angenehme Stimme des Herrn eine wohltuende Wirkung auf sie ausübte. „Übrigens, mein Name ist Murat Kazir“, sagte der nun wieder geradezu vornehm wirkende Herr.
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