Als sie wieder hinunter in die Halle sah, stand der Chinese vor Marc und hielt ihm einen Dolch an den Hals, es sah aus, als wollte er ihm die Kehle durchschneiden.
Zhang Lieh schien sich zu beruhigen, denn er trat von Marc zurück und stellte sich wieder hinter Daphne. »Ich habe mir schon gedacht, dass Sie ihn lieber sterben lassen«, sagte er böse und senkte seine Stimme wieder zu einem Flüstern, »deshalb habe ich, wieder einmal, eine Überraschung für Sie.« Er richtete sich auf und rief, »Komm herein, Erleuchteter Lama!« Daphne sah einen sehr alten Mönch durch die Halle schlurfen, sie verstand nicht, was das nun wieder bedeuten sollte. Seine orangefarbene Kutte leuchtete im trüben Licht. Als der alte Mönch vor ihr stand, sagte Zhang Lieh: »Sie können ihn ruhig ansehen, meine liebe Daphne.« Der Mönch war ohne Zweifel sehr alt, doch in seinem Gesicht wollten die Augen nicht so recht zum Alter passen, sie schienen von innen heraus zu leuchten. Daphne schnappte nach Luft, dieser Mensch hatte schon einmal eine Seelenübertragung gemacht, sie wusste, dass sich die Augen danach unwiderruflich veränderten. Auch konnte ihr Geist nicht in seinen Kopf eindringen. Der alte Mönch lachte gackernd und sagte: »Wahrlich Daphne, du hast dich aber sehr verändert.« Sie spürte leichte Panik in sich aufsteigen, dieser Mensch kannte sie. »Ja«, sagte er gedehnt, »ich kenne dich und du kennst mich.« Daphnes Gedanken rasten, Zhang Lieh kam ihr zur Hilfe, weil er voller Ungeduld rief. »Schluss jetzt, Ngödup, lass uns beginnen, bringen wir es nun zu Ende.« »Ngödup?«, fragte Daphne schwach. »Was hast du vor?«
»Ich habe lange darauf gewartet, dich wiederzusehen«, antwortete Ngödup verächtlich. »Nur hätte ich nie gedacht, dass du einen Seelentausch machst. Ich habe dich schon immer gehasst, auch als du noch im Kloster gelebt hast. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich dich damals schon hochkant aus dem Kloster geworfen«, sprach er weiter. »Aber nein, du warst ja der Liebling aller. Jetzt, meine Liebe, zeige ich dir, dass ich schon immer besser war als du. Schau, was ich gelernt habe, du wirst staunen!«, rief er. Er besah sich das Blatt, auf dem Daphne die Beschwörung aufgeschrieben hatte und ließ es achtlos fallen. Mit heruntergezogenen Mundwinkeln sagte Ngödup: »Alles falsch, ich mache es aus meiner Erinnerung.« Er sah Daphnes fragenden Blick. »Als du endlich verschwunden warst«, erklärte er ihr, »habe ich ein wenig herumgestöbert, du hast im Kloster eine große Lücke hinterlassen. Alle schienen ratlos zu sein, so habe ich dein Aufgabengebiet übernommen. Endlich konnte ich zeigen, was ich kann. Doch noch all die Jahre, nachdem du weg warst, haben die Menschen immer nur von dir und deinen Fähigkeiten gesprochen. Ich habe bei Tschönpel die Seite mit der Beschwörung gefunden, und glaube mir, ich habe mir Wort für Wort eingeprägt. Leider war er so klug, bald darauf die Seite verschwinden zu lassen. Nur diesen verfluchten Dolch konnte ich nicht finden. Aber ich hatte in alten Aufzeichnungen die Beschreibung des Dolches gefunden. Nun, ich habe mir dann selbst einen gebastelt und nach einigen Fehlversuchen hat es dann auch endlich funktioniert.« Er lächelte abfällig. »Die ersten paar Male hab ich es an sterbenden, alten Menschen ausprobiert, ist nicht immer so gelaufen wie ich es mir gewünscht habe.« Daphne war entsetzt und fragte ihn: »Was meinst du, mit einigen Fehlversuchen?«, obwohl sie die Antwort schon ahnte. Er zuckte nur die Schultern, als er antwortete, »Leider kann ich nicht, wie du, die Seelen sehen und so hab ich mich halt ein paar Mal verschnitten.« Daphne schüttelte traurig den Kopf und sprach eindringlich, »Was tust du nur, Ngödup? Du verstößt gegen alle Regeln des Buddhismus; das Leben und die Seele sind heilig.« Ngödup sah sie wütend an. »Ich habe nicht erwartet, dass du mich verstehst. Ich bin ein neuer Buddha, mit eigenen Gesetzen. Und das Kloster haben mir die Chinesen zur freien Verfügung gestellt.« Daphne ahnte Schreckliches und verstand plötzlich, er, Ngödup, war der Spion im Kloster. Daphne war sich sicher, dass die chinesische Regierung von alldem nichts wusste. Zhang Lieh handelte im Alleingang und nur für seine Zwecke. Zhang Lieh hatte es sich auf einem Stuhl direkt neben Marc bequem gemacht, und Ngödup wandte sich nun ihm zu. Daphne verstand noch mehr: Ngödup würde die Seelen von Marc und Zhang Lieh tauschen. Sie begann wie wild auf ihrem Stuhl zu toben. Daphne schrie aus Leibeskräften, wenn Marc doch nur endlich zu sich kommen würde. Doch er war immer noch ohne Bewusstsein. Noch einmal drehte sich Ngödup zu ihr herum, aber nur, um ihr mit der flachen Hand ins Gesicht zu schlagen. Dabei zischte er: »Schluss jetzt, Weib, ich hoffe, du genießt das dir dargebotene Theater. Marc kann nicht aufwachen, er hat eine Betäubung bekommen.« »Nein!«, schrie sie weiter. »Das könnt ihr nicht machen, hört sofort auf!« Dann schrie sie Marcs Namen, doch der rührte sich nicht. Zhang Lieh trank eine kleine Flasche leer und wurde augenblicklich ohnmächtig. Daphne konnte sehen, wie der Astralkörper Zhang Liehs, verbunden durch eine dünne, silberne Schnur mit seinem Körper, aus Zhang Lieh heraustrat. Wie sie erwartet hatte, war sein Astralleib klein und unterentwickelt, was bei Menschen, die sich nicht mit ihrer geistigen Entwicklung beschäftigten, normal war. Ngödup griff nach der Schnur, und Beschwörungen murmelnd, durchschnitt er diese und hielt sie fest. Ngödups Hand, die den Dolch hielt, tauchte in Marcs Körper und zog mit Gewalt seinen Astralkörper heraus. In Daphnes Augen brannten Tränen, ihr Herz pochte so heftig, dass sie dachte, es müsse ihr aus der Brust springen. Sie war nicht mehr fähig, zu schreien, sie konnte nur zusehen, wie das Unglück seinen Lauf nahm. Ja, sie hasste Zhang Lieh aus tiefstem Herzen, erst hatte er ihr das Kind genommen und jetzt nahm er ihr auch noch den Liebsten. Mittlerweile hatte Ngödup auch die silberne Schnur, die den Astralleib mit dem Körper von Marc verband, durchtrennt. Daphne fiel auf, dass er den Astralleib nur in Verbindung mit dem Dolch ertasten konnte, würde er ihn weglegen, fassten seine Hände ins Leere. Sie beobachtete, wie Ngödup Zhang Liehs Astralleib mit einer Hand zu Marcs Körper führte, in der anderen hielt er Marcs Astralkörper, dann führte er Marcs Körper und Zhang Liehs Astralkörper zusammen. Ein gleißendes Licht, Funken sprühten wie bei einem Feuerwerk, Sekunden später verschwand Zhang Liehs Astralleib in Marc. Nun wiederholte er alles mit Marcs Astralleib und Zhang Liehs Körper. Ngödup nickte zu Jun Kao, dieser löste die Fesseln von Marc, warf ihn sich über die Schulter und verschwand mit ihm. Ngödup verbeugte sich vor Daphne und sagte: »Ich bin mir sicher, wir werden uns noch einmal begegnen, aber nicht mehr in diesem Leben.« Woher er so plötzlich die Waffe hatte, war Daphne schleierhaft, aber sie wusste, wenn er zweimal mit dem stark lähmenden Gift auf sie schoss, würde sie in zwei Sekunden tot sein. Die ganze Zeit hatte Hu Lien bewegungslos hinter Daphne gestanden, er hatte nicht einen Finger gerührt, um Marc zu helfen, aber jetzt zögerte er nicht. Hu Lien warf sich mit einer Schnelligkeit und Geschmeidigkeit, die man von ihm nie erwartet hätte, vor Daphne. Keinen Moment zu früh, denn beide Schüsse trafen ihn. Ngödup fluchte, hatte aber auch keine Zeit mehr, abermals auf Daphne zu schießen, denn jetzt brach die Hölle los. Das Sonderkommando der Ordnungshüter stürmte die Fabrik, höchste Zeit für Ngödup zu verschwinden. Hu Lien schien noch zu leben, denn Daphne konnte nicht sehen, dass seine Seele seinen Körper verließ. Doch Daphnes größte Sorge galt Marc, der im Körper von Zhang Lieh immer noch ohne Bewusstsein am Boden lag. Sie stürzte zu ihm, streichelte sein Gesicht und rief ihn beim Namen. Dann sah sie Betty und einige fremde Männer auf sie zustürmen, sie spürte, dass sie von einer Betäubungskugel getroffen wurde. Irgendein übereifriger Beamter hatte wohl geschossen. Daphne nahm noch kurz das brennende Nervengift wahr, dann stürzte sie in die Dunkelheit; wohltuend, erlösend, keine Gedanken, keine Schmerzen.
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