Dann gefror Ryu das Blut in den Adern zu Eis und sie duckte sich unwillkürlich. Grässliche Schreie schallten durch die Gänge. Ihr Echo geisterte noch lange umher. Es waren Schreie einer Frau in höchster Todesnot, qualvoll und herzzerreißend und so voller Angst. Zuerst wollte Ryu in die Richtung rennen, aus der die Schreie kamen, doch dann wurde sie sich ihrer Machtlosigkeit bewusst. Sie war ja bloß ein Mensch, und wen sie dort, woher die Schreie kamen, antreffen würde, waren Monster, die nicht zögern würden, auch sie umzubringen. Weil sie es nicht länger ertragen konnte, steckte sie sich die Finger in die Ohren und hastete weiter, doch die Schreie wurden nicht leiser, sondern immer lauter und bedrängender.
Ryu bekam fürchterliche Angst, denn egal, in welche Richtung sie lief, sie kam den Schreien immer näher. Ein letzter, unmenschlich hoher Schrei brach ab, dann herrschte wieder Stille ringsumher, Totenstille. Ryu atmete auf und lauschte. In der Ferne knarrte eine Tür, ein hohles Kichern wurde immer leiser. Ryu hielt den Atem an. Die Vorstellung, dass im nächsten Augenblick grässliche Monster aus dem Dunkel dringen und sich auf sie stürzen könnten, ließ sie zittern wie Espenlaub.
Doch es blieb still, keine Schritte, keine Monster. Sie musste weiter, denn es war schon fast ein Uhr. An jeder Kreuzung blieb sie stehen und versuchte, die Finsternis mit Blicken zu durchdringen. Ihre größte Angst war, dass dieser Stan sich plötzlich vor ihr materialisieren würde und seine schrecklichen Drohungen wahr machte. Genau so schlimm war der Gedanke, Serpenta würde ihr den Weg verlegen, sie in eine Ecke drängen und sie bei lebendigem Leib verschlingen. Und sie könnte nirgendwohin fliehen.
Am Ende eines Ganges sah sie den fahlen Schimmer von Mondschein, der durch staubiges Glas fiel. Dann erkannte sie ein großes Tor. Jetzt hielt sie nichts mehr. Sie begann zu rennen, und es war ihr egal, wie laut ihre Schritte schallten. Ein einziger Gedanke beseelte sie: Nur weg hier! Weg aus diesen schaurigen Gängen, die nach Blut und Verwesung rochen.
Als sie das Tor erreichte, prallte sie mit jemandem zusammen. Ihr Herz stockte, doch dann erkannte sie den Federschopf. Es war Kronos. Er hatte Wort gehalten.
Kronos schien sich genauso schlimm erschreckt zu haben wie sie selbst. Er zitterte am ganzen Leib, seine Hände flatterten, als wollten sie von ihm weg fliegen.
„Du bist zu spät“, flüsterte er und rieb seine zittrigen Hände. „Ich habe schon befürchtet, du würdest nicht mehr kommen.“
Er hatte hier alleine auf sie gewartet und die schrecklichen Schreie ebenfalls gehört, das hätte Ryu an seiner Stelle auch ungeduldig gemacht. Sie versuchten das Tor leise zu öffnen, doch es knarrte so unerträglich laut, als sei es vor zweihundert Jahren das letzte Mal geölt worden. Hinter ihnen fiel es mit lautem Krachen ins Schloss.
Draußen goss der große runde Mond sein rötliches Licht über das Land. Es erschien Ryu wild und abschreckend. Hinter dem Osttor dehnte sich ein riesiges Moor aus. Tümpel schillerten ölig, vermoderte Baumstümpfe reckten ihre abgestorbenen Äste wie die Finger von riesigen Gespenstern in die Höhe. Ab und zu schüttelten knorrige Trauerweiden in Windstößen ihr welkes Laub zu Boden. Aus Pfützen und Morastlöchern stiegen Nebelschwaden.
„Müssen wir dort wirklich durch?“, fragte Ryu ängstlich.
„Wir versuchen es“, meinte Kronos. „Pass gut auf, dass du auf den großen Grasbüscheln bleibst und nicht ins Moor trittst.“
Die beiden wateten langsam durch das Moor, ihre Füße versanken bei jedem Schritt bis zu den Knöcheln im sumpfigen Untergrund. Wenn sie die Füße daraus hervorzogen, schmatzte das Moor wie ein gieriges Tier. Sie kamen nur langsam voran, manchmal versperrten mehr als mannshohe Inseln aus Schilf ihren Weg, denen sie ausweichen mussten. Je tiefer sie ins Moor eindrangen, desto tiefer sanken ihre Füße im Morast ein. Oft erschraken sie zu Tode, wenn Frösche vor ihnen aufsprangen und mit lautem Platschen in ein Wasserloch sprangen.
Dann wälzte sich aus den Tiefen des Moores eine dichte Nebelbank heran. Ihre Ränder waren noch löchrig, Windstöße rissen Schwaden ab und wirbelten sie hoch hinauf in den nächtlichen Himmel. Dann war der Nebel heran. Er war klamm und kalt und so dicht, dass Ryu und Kronos ihre eigenen Füße nur noch mit Mühe erkennen konnten.
Ryu versuchte, nicht die Orientierung zu verlieren, was ihr immer schwerer fiel. Manchmal glaubte sie, an dieser oder jener Stelle schon mal vorbei gekommen zu sein und fürchtete, dass sie im Kreis gegangen wären.
Plötzlich hielt Kronos sie an der Schulter zurück. „Bewege dich nicht“, flüsterte Kronos und zog sie hinter einen niedrigen Busch..
Ryu hielt den Atem an und horchte in den Nebel hinein. Sie vernahm seltsame Geräusche, die sie nur schwer zuordnen konnte. Manchmal war es ein leises Rascheln, dann plätscherte etwas, ein trockener Ast knackte. Alle die Laute ließen darauf schließen, dass sich jemand anschlich. Plötzlich verstummten die Geräusche, entweder hatten sie sich alles nur eingebildet oder das Wesen dort draußen im Nebel war aus irgendeinem Grund stehen geblieben. Sie warteten noch eine Minute ab, bis sie das Gefühl hatten, dass dort im Nebel nichts Bedrohliches war. Sie wateten weiter durch das schmatzende und glucksende Moor und die einzigen Geräusche, die sie begleiteten, waren die von ihnen selbst verursachten.
Ryu stolperte über einen abgestorbenen Ast und fiel in den aufspritzenden Morast. Kronos, der sich dicht hinter ihr gehalten hatte, wäre um ein Haar von ihr mit zu Boden gerissen worden, konnte sich aber auf den Beinen halten. Ryu spürte, wie ihre Hände immer tiefer Moor versanken und war darauf bedacht, sie schnell wieder herauszuziehen. Kronos hatte das zum Glück bemerkt, packte sie unter den Achseln und zog sie in die Höhe.
Ryu atmete tief durch und streifte sich den Schlick von Armen und Händen. Dann duckten sich beide instinktiv, denn ganz in der Nähe vor ihnen erklang ein Plätschern, dann vernahmen sie hinter sich schmatzende Schritte, die immer näher kamen.
Ryu versuchte, den Nebel mit ihren Blicken zu durchdringen, konnte aber nichts Genaues erkennen. Dann entdeckte sie, dass der Nebel nicht mehr dicht über dem Boden waberte, sondern den Kontakt mit dem Boden verloren hatte. Sie hielt sich an Kronos' Hand fest und duckte sich, um unter dem Nebel hindurch zu schauen.
Sie musste so tief mit dem Kopf hinunter, dass ihre Wange schon den Morast berührte. Hier unten hatte sie eine Handbreit freie Sicht. Ihre Blicke glitten über das schwarze Moor, bis sie gegen etwas stießen, was zwei Stöcke sein konnten. Dann bewegten sich diese Dinger vorwärts und sie erkannte, dass es kein Holz, sondern behaarte Pfoten waren. Die Haare auf den Pfoten waren tief schwarz und glatt. Die Pfoten waren größer und dicker als Menschenhände und konnten unmöglich einem Wolf gehören. Ryu erschauerte. Was kam da auf sie zu und wie gefährlich war es?
Ryu zog sich an Kronos' Hand wieder in die Höhe und zeigte in die Richtung, in der sie dem anschleichenden Wesen entkommen konnten. Sie wateten weiter durch das Moor und versuchten, die Schritte schneller und größer zu setzen, doch es nutzte ihnen wenig. Die Schritte kamen immer näher, was sie in panischen Schrecken versetzte. Weil sie ihre Schritte zu hastig setzten und auf Hindernisse wie Wurzeln und abgestorbene Büsche und Äste nicht mehr achtgaben, stolperten sie und kamen immer langsamer voran.
Ryu vernahm ein tiefes heiseres Knurren, so laut, dass sich die Kopffedern auf Kronos' Schädel senkrecht stellten. Egal, was da hinter ihnen immer näher kam, wenn es solche grässlichen Töne von sich geben konnte, musste es riesig und ziemlich wütend sein. Sie fielen mehrmals hin, krochen durch Dornengebüsch und wateten durch knietiefes Wasser, doch sie konnten das Wesen hinter sich nicht abschütteln. Sein heiseres Knurren wurde zum dröhnenden Grollen, und das Moor wollte einfach kein Ende nehmen.
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