Dieser Spur ging auch Velmond nach. War es ein ehemaliger Bewohner des Hauses, der am Ende war und in seiner Not auf den Dachboden geflüchtet und von mitleidigen Schwestern dort durchgefüttert wurde, bis es nicht mehr ging oder er von einem gnädigen Tod erlöst wurde? Schließlich blieben jeden Tag viele Essensportionen auf den Trolleys übrig, die - zurück in der Küche - weggeworfen wurden. Da könne man leicht noch mehrere arme Kerle durchfüttern?
Uta Möbius lud eine Schwester nach der anderen in ein Besprechungszimmer ein. Sie bekam sehr viel zu hören, auch über das gelegentliche Geschehen auf den Dachböden der verschiedenen Gebäude. Ja, es gäbe arme Teufel, die sich das Leben nehmen. Meist mit Tabletten. Erst würden sie konsequent das Essen und insbesondere das Trinken verweigern. Andere hauen einfach ab. Vielleicht irgendwohin unter eine Isarbrücke. Meistens Männer. Die kämen mit ihrem Schicksal viel schwerer zurecht als Frauen.
Dann erschien eine Ludmilla M., eine schmale Gestalt mit langen dunklen Haaren, vielleicht 30, vielleicht auch 40 Jahre alt. In ihrem bleichen Gesicht fielen Frau Möbius die verweinten Augen auf.
„Sie haben geweint? Wegen des toten Mannes?“
Ludmilla nickte nur stumm.
„Hat er Ihnen was bedeutet?“
„ Sterben so viele. Klar, ist Altersheim. Tod immer furchtbar. Weine viel. Gestern noch Essen gebracht, vielleicht geduscht, gesprochen. Über Kinder gesprochen. Nächsten Tag tot.“
„Und dieser Mann? Kannten Sie ihn?“
„ N e i n !“
“Wie können Sie das so entschieden sagen? Waren Sie draußen? Haben Sie ihn gesehen? Sie konnten ihn doch gar nicht erkennen?“
Ludmilla zuckte. Auf diese Attacke von dieser netten Polizistin war sie nicht vorbereitet. Dann brach sie zusammen.
„ Mann war mein Vater. Ganz armer Mann. Geflüchtet aus Kasachstan. Musste ihm doch helfen. Aber ohne Geld?“ Ludmilla begann hemmungslos zu weinen. „Hier alle reich. Werfen soviel Essen fort. Möbel, Sachen, Teppiche - alles wird weggeworfen, wenn Leute gestorben. Zuhause ist Not. Mein Vater reicher Bauer, aber dann alt und krank. Mutter gestorben. Heim gibt es nicht. Nur Familie. Dann du musst helfen, wo immer du bist. Papa alles verkauft, Haus, Schafe, alles – für Geld für Reise. Vorgestern Papa tot. Auf einmal. Was kann ich tun? Nicht oben liegenlassen. Nun ist vorbei. Werde gekündigt. Zuhause habe ich nicht. Weiß nicht wohin. Vielleicht ich springe hinterher.“***
„ Hast du schon gehört, der Frieder ist gestorben, ganz plötzlich!“
„ Der Frieder? Das kann doch gar nicht wahr sein; der ist doch gestern noch durch den Park gejoggt!“
„ .... und der hat doch so gesund gelebt. Der war doch Vegetarier und hat immer jede Menge Grünzeug gefuttert.“
„ .... und von seiner Familie hat der jede Woche so Bio-Zeug gebracht bekommen. Der hat doch nie - wie er immer sagte - diesen Industrie-Fraß zu sich genommen!“
„ Na, na, na, das ging, glaube ich, gar nicht von ihm aus, sondern von seiner Familie. Das waren so Supergrüne, so Blumenkohl-Apostel. Er selbst, ihm war das so ziemlich wurst. Wenn die Lena, also die Frau von seinem Enkel, wenn die kam, hat sie ihm alles rausgeräumt und weggeworfen, was hier vom Heim-Service angeliefert wurde. Und der soll jetzt tot sein? Der Friedrich Heckler? Der war doch mit seinen 87 noch fit wie ein Turnschuh!“
„ Ist natürlich ein schöner Tod. Gestern noch topp, und dann ganz schnell hopp! Wünsch’ ich mir auch.“
Gesprächsfetzen kurz vor dem Mittagessen in der Senioren-Residenz Sancta Agatha. Auf einem Tischchen stand schon sein Bild mit einem schwarzen Bändchen und ein paar Blumen.
Nun ja, gestorben wird in einem solchen Heim immer. Da muss man nicht gleich misstrauisch werden. Auch wenn jemand vorher noch fit wie ein Turnschuh war.
Erst als zwei Tage später eine der Hilfsschwestern ganz plötzlich zusammenbrach, auch sie noch kurz vorher flink auf den Beinen und mitten aus der Arbeit, da musste die Direktion reagieren. Ein Virus? Gefährliche Erreger? Etwas im Essen? Oder in der Lüftung? In solchen Fällen greift die Berichtspflicht. Behörden müssen diskret informiert werden, ohne gleich Panik auszulösen und gar den Ruf der Senioren-Residenz zu ruinieren.
Die Bestattung von Dr. Friedrich Heckler wurde gestoppt. Sein Leichnam wurde in die Pathologie der Tropenklinik überführt. Auch Schwester Ivanna wurde mit Blaulicht und Sirene in diese Klinik eingeliefert und kam auf die Intensivstation. Hatte sie den toten Heckler aufgefunden, etwa berührt? Könnte sie sich infiziert haben?
Wenige Stunden später kam die Diagnose: Heckler war an einem starken Gift verstorben. Kein Virus, kein Bakterium. Bei Schwester Ivanna zeigten sich dieselben Symptome. Ihr musste sofort der Magen ausgepumpt werden. Ihr Zustand nach wie vor bedenklich, weil bereits Nervenschäden diagnostiziert wurden und eine künstliche Beatmung eingeleitet werden musste. Die Analyse bestätigte erste Vermutungen: Aconitin, eines der stärksten Gifte aus der Reihe der Alkaloide. Leider fast überall für jedermann verfügbar, wo die beliebte Schmuckpflanze des tiefblau bis violett blühenden Eisenhuts angepflanzt worden war. Sämtliche Teile der Pflanze sind hochgiftig, wobei das Gift sogar durch die unverletzte Haut aufgenommen werden kann. Kinder, die diese vor allem in den Alpen reichlich vorkommende Pflanze in Sträuße gebunden hatten, erkrankten lebensgefährlich.
Wie konnte das Gift in das Heim gelangt sein? Im Park gab es keine Eisenhut-Stauden, an denen sich Dr. Heckler vergriffen haben könnte. War es Mord?
Wieder klingelte in der Mordkommission 2 das Telefon. Turnusmäßig war nun Hauptkommissar Maurice Elsterhorst an der Reihe, die Ermittlungen aufzunehmen. Jedoch warnte man ihn, seinen Hund Rinaldo mitzubringen. Die Gefahr sei zu groß, dass er Spuren des Giftes irgendwo aufschlecken würde. Man kenne ja die Spur nicht, vor allem keinen Zusammenhang zwischen Heckler und Ivanna.
„Wer hat den Toten morgens als Erster entdeckt?“ begann Elsterhorst seine Befragungen. Eigentlich war Thomas mit dem Frühstücks-Service betraut, stellte sich heraus, ein schon sehr lange beschäftigter, erfahrener Pfleger. Jedoch wurde er an diesem Morgen von Donata vertreten, einer Lernschwester.
„ Ja, ich habe den toten Dr. Heckler entdeckt und sofort die Heimleitung verständigt, wie es den Anweisungen entspricht. Er war halb aus seinem Bett rausgerutscht und hatte etwas Schaum im Mund. Das ist ja häufig der Fall. Daher habe ich auch keinen Verdacht geschöpft.“
„Wer hat das Apartment gereinigt, nachdem der Tote weggebracht worden war. Gab es irgendwelche Besonderheiten?“
Die beauftragte Putzkolonne hatte die übliche Routine walten lassen. Spuren von Erbrochenem?
„ Nicht das ich wüsste. Ist ja nicht selten!“ sagte der Kolonnenführer. „Wir haben wie immer den Kühlschrank ausgeräumt und alle Nahrungsmittel, Honig, Marmeladen, Butter, was halt so drin steht, in einen Karton gepackt. Muss ja alles vernichtet werden. Auch alle Flaschen, Bier, Wasser, etwas Wein - alles kam raus. Schokolade, Kekse - das tut einem schon leid, dass diese guten Sachen, zum Teil noch unberührt, vernichtet werden müssen. Bei der Hungersnot woanders. Und manche Familie auch hier in München würde sich darüber freuen. Aber Vorschrift ist Vorschrift.“
Da der Müll bereits entsorgt war, müsste man eine sehr aufwändige Suche einleiten, um die Spuren zu verfolgen. Man einigte sich stillschweigend, darauf zu verzichten.
Gottlob erholte sich Schwester Ivanna einigermaßen, so dass ihr Kommissarin Uta Möbius am Krankenbett einige Fragen stellen konnte.
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