»Gärtner«, sagt Gadd und er sieht noch ein bisschen mehr aus wie die ehemals reinweißen Tischdecken hier vor zehn Jahren.
»Du kennst ihn?«
»Entschuldigen Sie.« Eine Stimme hinter ihr lässt sie herumfahren. Ricardo, einer der Köche, ein nach Zwiebeln riechendes Bierfass Mitte zwanzig tritt zu ihrem Tisch. »Sie sind Gadd Freumbichler! He, Mann, was geht!«
»He!«, gibt ihr Vater zurück, offenbar noch bei Roman und dem Eiermann.
»Ich liebe Ihre Arbeit auf ... auf ...« Er sieht Aja fragend an.
Sie rollt die Augen, dreht sich zu ihm um und sagt tonlos:
»Die CD.«
»Die CD«, wiederholt er laut. »Genau.« Er zieht mit einem dummen Grinsen eine CD aus seiner Tasche und liest stockend den Titel: » Preu... Preußische Tugenden .« Er runzelt die Stirn, die CD in seiner Hand bekommt langsam Fettflecken.
»Sie wollen bestimmt ein Autogramm von Gadd. Das ist mein Paps.« Sie hört sich überzeugend stolz an, wie sie findet.
»Haben Sie einen Stift?«, fragt Gadd. Kann es sein, dass er noch ein Stück deprimierter aussieht?
»Danke, Mann«, sagt Ricardo. »Ich muss zurück zu meinem Rostbraten.«
»Die CD.« Gadd hält sie ihm hin. Seine Hand zittert, aber endlich greift Ricardo zu und verzieht sich. Für diese miese Vorstellung hat sie ihm zehn Euro bezahlt und eine CD geschenkt?
»Cool, oder?«, sagt sie überschwänglich. »Dass sie dich immer noch erkennen.«
»Sie lieben mich«, sagt Gadd so traurig, dass Ajas Herz in tausend Teile bricht. »Fünf Jahre, fünf scheiß lange Jahre, in denen ich keine Sticks mehr halten kann. Geschweige denn, damit irgendwas treffe, was kleiner ist als Kanada.«
»Du machst Fortschritte. Das hast du gesagt. Das stimmt doch?«
»Preußische Tugenden«, sagt er leise, wie zu sich selbst. »Jeden Tag meine vier Stunden geübt, und ich meine, jeden beschissenen Tag. Immer der Erste im Studio. Wenn Not am Mann war, habe ich den Roadies geholfen, aufbauen, abbauen, ich habe die Band mit Essen versorgt, mit dummen Witzen und mit Trost. Ich habe sie gefahren, ich habe die Verträge ausgeschwitzt mit unserem verlogenen Dreckschwein von Manager. Hat ihn nicht davon abgehalten, sich mit der Kohle abzusetzen und der Journaille Lügen über mich zu erzählen. Und die Typen vom SWR, über die man hier dauernd stolpert, kennen mich nicht mehr.« Er fährt sich über die schwitzige Stirn.
»Du hast dir zu viel Stress gemacht.«
»Jeder hat Stress. Aber nicht jeder geht deswegen mit Cuervo Gold ins Bett, von den Frauen ganz zu schweigen.«
»Mama hätte ...«
»Sabine hat das einzig Richtige getan. Mir den Stiefel zu geben. Zerbrochene Drumsticks kann man nicht flicken. Da bleibt nur eins: wegschmeißen.«
Jetzt sind sie doch wieder da, wo sie jedes Mal hinkommen. Egal, was sie versucht, egal, wie gut das Essen oder wie schön das Wetter ist, egal wie viele Witze sie reißt oder wie sehr sie Sabines neuesten Mann verspottet, irgendwann landen sie und ihr Vater immer wieder an dieser düsteren Stelle: Tod bei Sonnenfinsternis über Schwarzafrika.
»Wir haben heute unsere Projektteams gebildet«, sagt sie rasch, um irgendetwas zu sagen.
»Der P-Day, richtig, hatte ich ganz vergessen. Und?« Er reibt sich die feuchten Augen und lächelt, dass Ajas zerbrochenes Herz in noch kleinere Teile bricht. Sein Lächeln gefriert und er blickt an ihr vorbei zum Nachbartisch, wo eine Kellnerin ein Tablett mit klaren Schnäpsen serviert. Aja rückt ein Stück mit ihrem Stuhl, genau in seinen Blick. Wut kocht in ihr hoch wie auf der Herdplatte vergessene Milch.
»Ich muss ein Projekt mit dem größten Idioten der Schule machen, ein kleiner, schmieriger Aufreißertyp. Er sagt, ich stinke nach faulen Bananen, und dann versucht er, mir die Zunge ins Ohr zu stecken.« Sie erschrickt über ihre Lügen. Sie hat jemanden verletzen wollen, egal wen.
»Du kriegst das hin«, sagt Gadd. Jetzt zittert sogar seine Stimme, ein Tick flackert in seinem linken Auge. Er setzt seine Sonnenbrille auf.
»Klar«, sagt sie mit dem schlechtesten Gewissen von hier bis Ostsibirien.
»Weißt du, dass ich deine Sommersprossen liebe?«, sagt er.
»Das erzählst du mir jedes Mal.«
»Sind es noch dreihundertvierundsiebzig?«
Er hat sich die Zahl gemerkt, trotz seines zersoffenen Hirns. Sie könnte heulen vor Freude, doch auf einmal ist diese hilflose Wut wieder da, wegen des Alks, wegen ihrer Entscheidung, die Schule zu schmeißen, die ihr mit jeder Minute dämlicher erscheint – und ihrer fest eingeplanten Lovestory mit Tizian abträglicher.
»Zähl nach, wenn du es wissen willst.« Sie steht auf, um den Schirm zuzuklappen, damit Gadd sie besser sieht, damit ihr neue Sprossen wachsen, damit sie nicht explodiert vor Wut. Aber der rostige Schirm denkt nicht daran, sich zumachen zu lassen. Sie tritt dagegen und ein überraschter Spatz fällt von seinem Rand auf den Nebentisch, mitten hinein in ein Königinnenpastetchen. »Das hier ist doch nur Show«, ruft sie. »Du reißt dich ein paar Stunden zusammen, damit ich dich den Rest der Woche in Ruhe lasse und du dich volllaufen lassen kannst.« Sie knallt ihren Hundert-Euro-Schein auf den Tisch. »Behalt den Rest.«
»Ich bin stolz auf dich«, ruft er ihr hinterher, die Leute im Restaurant sind ihm egal. Auch dafür liebt sie ihn, aber sie drängt sich weiter zwischen den Tischen hindurch. Sie springt über den Zaun auf den Gehweg und verschwindet.
Verschwinden? Wenn es doch so einfach wäre.
Denn Nicht-Verschwinden ist Dableiben und Dableiben tut viel zu weh.
Der Spatz in der Pastete zwitschert ein Lied davon.
Heiße-Hufe-Hermann und der Killerwels
»Bleib bei Gewitter ja im Haus«, sagt Flashs Mutter zum Abschied.
»Klar, Mama«, erwidert Flash. Wenn sie wüsste, was er vorhat, sie würde ihn vor den Gästen in sein Zimmer schleifen und ans Bett ketten.
Vielleicht ahnt sie es ja, denn sie setzt an, etwas zu sagen, meint dann aber nur:
»Bis Freitag. Und vergiss Marlboro Lights nicht.«
Flash nickt und klopft ihrem Esel, Marlboro, auf die Kruppe. Mit sieben Eseln und sechs Gästen bricht seine Mutter zu sechs Tagen Schwarzwaldtrekking auf. Die Gäste winken Flash zum Abschied, Flash lächelt nur. Sie sollen Spaß haben, so das Motto seiner Mutter.
Er will seiner Mutter nachrufen, sie beruhigen, »Ich werde nicht enden wie Opa«, denn genau davor hat sie solche Angst. Er bekommt kein Wort heraus.
Mit hängenden Schultern geht er hinüber zum Stall und gibt ihrem einzigen Eselsfohlen, Marlboro Lights, etwas zu saufen. Nachdem sie selbst das Rauchen aufgegeben hatte, hat Flash Mutter sämtliche Esel nach Zigarettenmarken benannt.
Schäfchenwolken ziehen über den Himmel. In Flash wecken Sie das Bedürfnis, in eine Wolke Zuckerwatte zu beißen, Auge in Auge mit Aja. Sie werden sich so lange durchfuttern, bis sich ihre Lippen berühren.
Der erste Schritt ist getan. In den letzten Wochen hat er daran gearbeitet, dass Aja und er in ein Projekt gesteckt werden. Dass es so glatt lief, war kein Glück. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er jemand anderen, noch dazu einen Lehrer, bewusst beeinflusst hat. Aber wenn Aja es nicht wert ist, dass er über seinen Schatten springt, wer dann?
Hör auf zu träumen. Mach dein Ding. Darum geht es. Nur darum.
In einigen der Wolken quellen kleine Höcker aus dem Weiß, Vorboten der Cumulonimbusse, der Blumenkohlgebirge, die später daraus wachsen. Flash kribbelt es im Nacken, er spürt die Elektrizität. Er muss sich beeilen.
Laut singend – FFFFFFlash! A-haaa, saviour of the universe! – läuft er zu seinem Schuppen, den er sich eigens für den einen Zweck aus zusammengesuchten Latten und beim Sägewerk geschnorrten Abfallbrettern gezimmert hat. Nur, wenn seine Mutter unterwegs ist, kann er in Ruhe an seinem Projekt arbeiten, ohne andauernd jede einzelne Verletzung ihres Großvaters aufgetischt zu kriegen.
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