Sie läuft Richtung Bushaltestelle, da bringt sie eine Telefonsäule auf eine Idee. Ein Handy hat sie keins. Wen sollte sie anrufen? Vom Festnetz telefoniert sie gern mit der Zeitansage. Manchmal, und diese Anrufe sind ihr die liebsten, ist der Pieps kein elektronischer, sondern die Konservenstimme sagt selber: »Pieps.«
Aja zieht die Karte des Eiermanns aus der Tasche – Edgar Gärtner, Dr. jur. – und wählt die Handy-Nummer.
»Wofür steht das jur.? Für Juror? Hast du Mama bei einer Misswahl aufgerissen?«
»Warte nicht auf deine Mutter. Könnte spät werden.«
»Dann mach dich auf was gefasst. Sabines Spezialität ist Pétoncle . Na ja, wer’s mag.«
Daheim wird sie als Erstes Pétoncle googeln. Jede Wette, sie wird nicht die Einzige sein.
Das outeste Paar auf der Projektarche
Aja verzieht das Gesicht, als sie sich vorsichtig auf den Klappsitz im fensterlosen, aber herrlich kühlen Physiksaal sinken lässt. Die Milchtüte aus dem Müllcontainer beim Supermarkt Duper – dem unstreitig dümmsten Wortspiel im deutschen Lebensmitteleinzelhandel – hat einen guten Eindruck gemacht. Aja glaubt an Mindesthaltbarkeitsdaten so wenig wie an die bewusstseinserweiternde Wirkung von Erdkunde. Könnte ein Fehler gewesen sein, meint ihr Magen.
»Habt ihr keine Waschmaschine daheim?« Claras Frage reißt Aja aus ihren Gedanken. Die Blondine stakst an Aja vorbei hinunter zur ersten Reihe, das hochgereckte Näschen demonstrativ zugehalten.
»Wir haben mehr Waschmaschinen als du Stilettos im Schrank«, ruft Aja ihr hinterher und Köpfe drehen sich und einer der Jungs ruft: »Frau Miele ist deine Mama?«
»Du musst die Maschine einschalten «, sagt Hanna, die Clara folgt, und setzt sich neben sie, mit unverbaubarer Sicht zum Pult. In sein und die Klassenbeste – ja, Welt, ich hab’s kapiert: Es gibt keine Gerechtigkeit.
»Und die Kleider reinlegen , nicht bloß obendrauf«, ergänzt Lissa und gleitet elegant in den Platz auf Claras anderer Seite. Die Oberhenne ist unstreitig das Topmodel der Schule, hochglanzbrünett, mit mehr Busen als jeder Meerbusen – der Kalauer musste sein – und noch mehr Köpfchen. Was sie sich in diesen Kopf gesetzt hat, verfolgt sie mit einer Zielstrebigkeit, gegen die Robin Hoods Pfeile verwirrt im Wald herumirrende Alzheimerpatienten sind. Sie duftet nach frisch gepflückten Äpfeln, Handelsklasse VIP-Lounge .
»Ihr würdet auch stinken, wenn ihr in einen Müllcontainer mit Lebensmittelabfällen gesprungen wärt. Unverpackten.« Aja schlägt die Hand vor den Mund. Zu spät. Sie lachen, sie alle. Sollen sie nur, ist ja nicht das erste Mal. Oder das zehnte. Aber bald das letzte Mal.
Wenn sie beim Projekt durch failt , was abzusehen ist, plus die Fünfen in Erdkunde und wahrscheinlich in Mathe – Ende Gelände für Aja F. Ehrenrunde? Nein, danke. Nächster Halt: Job suchen oder Lehrstelle, eigenes Geld verdienen müssen .
»Aja geht jeder Waschmaschine aus dem Weg«, ruft Yannick über das Gelächter. »Alles, was mit Strom läuft, ist ihr unheimlich.«
Dass ausgerechnet Yannick das hinausposaunen muss! Sie verschränkt die Arme und rutscht so weit nach unten in ihrem Sitz in der letzten Reihe, dass sie unsichtbar wird. Sie kann nur beten, dass Yannick nicht mehr erzählt.
Gott, ihr ist schlecht. Wegen der Tüte mit Müsli (erst kürzlich abgelaufen), der mit Chips (extrascharf, extra lange abgelaufen) oder der Dose Ölsardinen (in Curry-Tomatensoße, Ration der Wehrmacht aus dem Ersten Weltkrieg)?
Alles Tizians Schuld! Wenn er sie gesehen hätte, wie sie in den Abfällen wühlt, wären ihre nicht vorhandenen Chancen beim coolsten Typen der Schule tiefer gesunken als die Titanic. Aber, Moment mal, was wird, wenn sie von der Schule fliegt? Ohne Abschluss kriegt sie doch nie eine Lehrstelle. Die Titanic liegt tief, aber das ist noch längst nicht die tiefste Stelle im Ozean.
»Projektwoche!« Herr Sarytchew stürmt herein wie einer dieser Fernsehprediger aus Amerika. Er verströmt genug Adrenalin, dass man noch in der letzten Reihe Herzrasen kriegt. Er ist durchgeknallt, aber Aja mag ihn trotzdem. Oder deswegen?
»Ihr bildet Paare, ihr Völker der Erde, und ich bin euer Noah, der euch auf die Projektarche führt. Die meisten von euch wissen schon, mit welchen Projekten sie die Wunder der Schöpfung preisen werden. Die anderen werden es bis Montag herausgefunden haben und es mir verkünden. Danach bleiben euch knapp zwei Wochen bis zur Abgabe. Entschuldigungen wegen plötzlich auftretender Krankheiten, Naturkatastrophen oder Besuchen der Oma aus Neuseeland«, er steigt die kleine Treppe zwischen den Reihen nach oben und bleibt neben Aja stehen, »werden nicht akzeptiert.«
»Hm«, murmelt Aja, ohne den Blick zu heben.
»Todesfälle bitte bis Projektende hinausschieben. Ich empfehle Einäscherung, dann kann man ein paar Wochen auf die Beisetzung warten.« Jetzt sieht er Aja an.
»Habe ich Ihnen schon mal gesagt, dass Sie mein absoluter Lieblingslehrer sind?«, fragt sie.
Er zwinkert ihr zu, sagt nur »Montag« und dreht sich zur Klasse.
»Apropos Einäscherung. Wie viel Energie wird von einem Körper freigesetzt, der achtzig Kilogramm wiegt und zu achtzig Prozent aus Wasser und zu zwanzig Prozent aus Kohlenstoff besteht? Wir gehen von vollständiger Verwesung aus. Die Wärmekoeffizienten findet ihr im Buch auf Seite ... Tom?«
»Ziemlich weit hinten.«
»Gewohnt exakt formuliert, ich danke. Ihr habt drei Minuten. Und rechnet den Anzug des Toten dazu: zwei Kilogramm, aus sechzig Prozent Wasser und vierzig Prozent Kohlenstoff. Gott sei der Seele des armen Mannes gnädig.«
Aja zeichnet Tizians Gesicht. Seine riesigen Augen. Den kleinen Hut, kubanisch oder so. Sie würde ihm den Hut abnehmen und ihre Nase in seinem dichten, blauschwarzen Haar vergraben. Besser als umgekehrt. Ihre Haare riechen nach faulen Bananen.
Wenigstens ist Tizian nicht in ihrer Klasse. Wenigstens hat er keine Ahnung, dass sie überhaupt existiert. Darauf kann man aufbauen. Ab heute ist sie Optimistin, das muss sie demnächst sein, in der freien Wirtschaft. Ihr Glas ist halb voll! Leider hat sie keine Ahnung, woher sie das Glas nehmen soll.
»Fertig«, ruft Hanna, wer sonst, und Herr Sarytchew kommt angerannt. Sie flüstert ihm die Lösung zu und er nickt und lächelt sie an. Gott! Hanna ist die Nummer eins in der Klasse, nicht nur in Physik, und die Nummer drei der Super-Chicks – so nennen sie sich, Lissa, Clara und Hanna.
Aja nennt sie die Suppenhühner. Was sie cool finden, ist cool, was sie peinlich finden, sollte man am einsamsten Ort der Sahara begraben. Mitsamt den Kamelen, die es dorthin geschaukelt haben.
Unter Tizians Gesicht schreibt sie:
»Hiermit schwöre ich, Aja Freumbichler, dass ich nie, nie, nie so werde wie die.«
»Paare bilden«, ruft Herr Sarytchew.
Paare bilden? Gute Idee. Wenn die Liebe nicht so ein verdammt niederträchtiges Gefühl wäre, würde Aja sich zutiefst dafür schämen, dass sie auf den gleichen Typen abfährt wie die Hühner. Oder der weibliche Rest der Schule.
Die Paare bilden sich, Noah alias Herr Sarytchew notiert.
Gerti und Fee – ein Elefantenpärchen.
Yannick und Sören – ein Paar Schakale.
Almila und Canan – ein Zwillingspärchen Seidenpantoffeln aus Tausendundeiner Nacht.
Nicht anwesend: Sabine und Edgar »Eiermann« Gärtner – ein Paar Pétoncles. Wieso war ihre Mutter heute Morgen daheim? Hat sie etwa auf ihr Ei zum Frühstück verzichtet? In der Küche dufteten Croissants, an der Küchentür prangte demonstrativ ein Hundert-Euro-Schein. Auf eins davon hat Aja dankend verzichtet.
Das Paarlaufen schließt mit Lissa, Clara und Hanna. Einige Rechengenies motzen, dass drei eine zu viel sind, aber keiner traut sich, bei Herrn Sarytchew Beschwerde einzulegen. Es gibt nur eins, was schlimmer ist als ein Mann, der sich von Schönheit blenden lässt: einer, der sich von Klugheit blenden lässt. Wie würde es Yuko mit einer traditionellen japanischen Weisheit sagen? Zum Kot Zen .
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