Die Gerüchte über das gemeinsame Projekt der drei kochen so hoch, dass es selbst Aja mitbekommen hat: eine Fashion Show. Oh, bitte! Germany’s Next Suppenhuhn oder was? Die Sendung läuft schon seit dem Mauerfall. Dem von Jericho. Sollte die nicht langsam mal so out sein wie Miniröcke? Die sind doch out, oder?
Nachdem alle vorn waren, schlendert auch Aja die Treppe runter zum Pult.
»Teilen Sie mich ein, Pater«, sagt sie. »Alles für unser Projekt, keine Macht den Atheisten, Jesus rules .« Sie hebt die Faust und summt den Anfang des Ave Maria.
Herr Sarytchew lächelt. Sie vermutet, er wird sie dem Elefantenpärchen zuteilen. Wenn auch nur, um den Gewichtsdurchschnitt zu drücken. Almila und Canan wären auch akzeptabel, solange sie sie nicht mit einem ihrer Brüder oder Cousins verheiraten wollen. Aber soweit sie sieht, bleibt Barbara. Noch so ein Fashion Victim, doch immerhin kein Suppenhuhn.
»Barbara«, sagt Sarytchew, und Aja gibt ihr das Daumen-nach-oben-Zeichen. Die aber ignoriert sie und flattert lächelnd zu den Suppenhühnern. »Barbara«, sagt Sarytchew, »wird unser unerlaubtes Trio zu einem Vierer ergänzen, anders ausgedrückt, einem Doppelzweier.« Beifälliges Gemurmel in der Klasse. »Alles geht wunderbar auf, genau wie bei Noah.«
Geht es? Eine Sekunde hofft Aja, dass sie spontan unsichtbar geworden ist. Dann folgt sie Sarys Blick.
In der dunkelsten Ecke des Saals, dort, wo die Leuchtröhren ausgefallen sind und vermutlich Pilze und Nacktmulle in ewiger Finsternis gedeihen, hockt eine Gestalt vor der abgedeckten Versuchsanordnung.
»Das ist nicht Ihr Ernst«, sagt Aja hastig. »Schustern Sie uns doch beide einem Pärchen zu, zweimal drei ist dasselbe wie dreimal zwei, Kommutativgesetz.«
»Du und Fabian«, sagt er, »werdet euch hervorragend ergänzen.«
»Minus mal minus ergibt plus«, ruft Lissa.
Aus den Schatten kommt ein Lachen, und im nächsten Moment zuckt eine der tot geglaubten Röhren mit schmatzendem Knutschgeräusch zu neuem Leben. Flash hat den Kopf unter dem Tuch der versteckten Apparatur. Als würde er darunter die nackte Kristen Stewart sehen. Nö. Wie sie ihn einschätzt wohl eher nackte Mulle.
Eigentlich heißt er Fabian Carinus, aber wenn man ihn ruft, dann Flash. Nicht, dass irgendjemand ihn rufen würde. Sollte es jemanden in der Klasse geben, der noch weiter weg von der Meute lebt als sie, dann dieser Strange ling .
Flash ignoriert die Aufmerksamkeit. Er scheint abzuzeichnen, was ihn unter dem Vorhang so fasziniert. Wozu?
Zum ersten Mal, seit er in ihrer Klasse ist, sieht Aja ihn sich genauer an. Er trägt dieselbe Nichtfrisur wie ihr Vater in den Siebzigern oder wie diese Erdzeitalter korrekt heißen. Seine Nase vollführt einen Bogen, hart an der Grenze zum Krummsein, und seine Lippen sehen aus wie zwei Schnitz Pfirsiche und schmunzeln permanent über irgendeinen streng privaten Witz.
»Wie heißt er noch mal?«, fragt Clara. Sie wäre die Klassenbeste. Wenn Beine denken könnten. Die Idee mit der Fashion Show stammt todsicher von ihr. Die anderen debattieren über ihre Projekte, als ginge es um die Freiheit oder das Überleben der Tölpelkolonie auf dem neuseeländischen Cape Kidnappers.
»Eure Heiligkeit«, fleht Aja Herrn Sarytchew an. »Bitte gewähren Sie mir Gnade oder wenigstens einen Scheiterhaufen im Morgengrauen.«
»Bei dem ganzen Zeug, das dir im Kopf rumspukt«, er sieht sie streng an, »und das du leider nie für dich behalten kannst, wird wohl eine spannende Projektidee dabei sein. Schon aus statistischen Gründen.« Er winkt Flash zum Pult. »Ihr habt hoffentlich nichts gegeneinander? Differenzen in Glaubensfragen? Blutrache?«
»Höchstens was miteinander«, sagt eine Jungenstimme aus dem Hinterhalt. Aja schnappt Herr Sarytchew die Kreide aus den Fingern, wirft und trifft. Irgendjemanden.
»He, du hast den Falschen erwischt.«
»Beschwer dich bei Amnesty.«
Sarytchew winkt Flash herüber.
»Also ihr beiden.« Er nimmt Flash an der linken, Aja an der rechten Hand. Als wäre er ein Ringrichter, der einen Sieger verkündet.
Dabei verkündet er hier nur zwei sichere Loser.
»Ihr seid beides einfallsreiche Burschen, ihr könnt auch mal um die Ecke denken. Euch fällt was richtig Gutes ein. Ich persönlich empfehle etwas Naturwissenschaftliches und dennoch Gottgefälliges.« Er zieht sie zueinander. »Reicht euch die Hände.«
Flash streckt Aja seine Hand sofort entgegen und rammt sie ihr fast in den Bauch. Aja verdreht die Augen.
Einer der Jungs stimmt mit schönem Tenor den Brautmarsch an.
Durch die johlenden Hochzeitsgäste rennt Aja nach oben, bloß weg hier und raus aus der verbrauchten Luft.
Öffentliche Demütigungen erträgt sie höchstens ein Mal die Woche.
Liberté, Égalité und eine Zunge im Ohr
Liberté, Égalité, Lindenblütentee. Schöne Sprache, hübsche Lehrerin im Pariser Minirock mit Schottenkaro. Sind dann wohl doch noch in, diese Röckchen.
Statt sich auf ihren Platz links hinten zu fläzen, rutscht Aja auf den freien Stuhl neben ihren aufgezwungenen Projektbuddy, ihre schweißfeuchten Beine in den Shorts quietschen übers Holz.
»Denk dir was aus«, sagt sie leise zu ihm. »Ich setze meinen Namen drunter. Und dann lässt du mich in Ruhe, Deal?«
»Du hast das Gewitter gestern Abend wahrscheinlich nicht mitgekriegt«, sagt er, ohne sie anzusehen, »war ja nur eine Einzelzelle bei uns, kaum Windscherung. Ich war draußen, auf dem Feld, da bin ich meistens bei Gewitter, und als ich vorhin im Physiksaal die Vorbereitungen für den Aufbau einer Tesla-Spule gesehen ...«
»Mach, was du willst, von mir aus in ’ner Einzelzelle. Bist du einverstanden?«
»En français, Aja, s’il-vous plaît«, tönt Mamsell Müller von der Tafel, eine Französin, die im Körper einer Gelsenkirchenerin wiedergeboren wurde – einschließlich Ruhrpott-Akzent. Aja mag sie und sie mag ihr süßes, schweres französisches Parfüm, das noch zwei Schulstunden nach ihrem Unterricht in der Klasse hängt und Erdkunde erträglicher macht.
Aja seufzt.
»Fait que tu veux, de moi stationné à un celle pour un. Est-que tu es d’accord?«
»Je ne te comprends pas«, sagt die Mülläär. »Qu’est-ce que tu veux dire?«
»Sie will, dass er ihr die Zunge ins Ohr steckt.« Klar, Yannick der Schakal, wittert Blut noch gegen Pupsstärke 12.
»Ich stecke dir gleich die Zunge in den Hintern«, sagt Aja ganz cool. »Und zwar deine eigene. Nachdem ich sie dir ausgerissen habe.«
»En Français«, ruft Yannick.
»Fils d’une culotte«, übersetzt Aja. Könnte Hurensohn heißen, aber so ganz sicher ist sie sich nicht. Die Mamsell wohl auch nicht, denn sie schüttelt nur missbilligend den Kopf.
»Keine Sorge, Flash.« Lissa dreht sich zu ihm um und strahlt ihn warm genug an, um einen Eimer kaltes Wasser in Brand zu setzen. »Niemand glaubt ernsthaft, dass jemand wie du etwas mit Aja hat.«
Aja hat bereits eine Entgegnung auf der Zunge. Da bemerkt sie, wie Flash rot wird, und sie vergisst, was sie sagen wollte.
Bei ihr wurde er aber ein bisschen roter. Oder?
Und wenn schon. Sie will jemanden, der sie zum Erröten bringt. Sie will Tizian. Die Sonne unter den Sternen. So haben sie den Maler Tizian genannt, aus Venedig, Hochrenaissance.
Tizian. Aus Baden-Baden. Neuzeit.
Das bekannteste Bild des Malers heißt »Himmlische und irdische Liebe«.
Irdische Liebe mit Tizian. Wenn das mal nicht himmlisch wäre!
»Nein«, sagt Flash und reißt sie aus ihrem Traum. »Ich trickse nicht.«
»Ein Mann mit Charakter«, sagt Lissa. »Respekt.«
»Misch dich nicht ein«, ruft Aja und fügt ein »Ne mixe pas« hinzu, bevor sich auch noch Mamsell Müller einmixt.
Lässig dreht Lissa sich weg und tuschelt mit den anderen Suppenhühnern. Aja schnappt etwas von einem Date auf. Kunststück. Wenn man schon für Sabines Männer eine lange Liste braucht, dann muss Lissa sich zur Verwaltung eine externe Festplatte an ihr Seht-her-I’m-Smart-Phone hängen. Clara hätte fast genauso viele Chancen. Aber erstens schnappt Lissa ihr die Typen weg und zweitens hat Clara Angst, ein Kuss könnte ihr Make-up verunstalten. Und Hanna? Ihre Eltern haben mehr Meilen auf dem Konto als Herr Lufthansa persönlich und sie kriegt von ihrem Papi jedes Jahr zum Geburtstag eine Schönheits-OP geschenkt. Noch zwei Geburtstage und Hanna sieht aus wie ihr eigener Avatar. Mit dem ganzen Silikon, noch mehr Klugheit und ihrer irren Familie schlägt sie jeden Typen in die Flucht.
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