Auch hätte er davon gehört, dass sie das gemeinsame Haus verkaufen wolle, oder dass er nicht mehr in den ersten Stock dürfe, und sie alles umbauen wolle.
Genau das waren tatsächlich die Gedanken Theas. Ihr war klar, dass eine weitere Nutzung des Hauses mit einem Rollstuhlfahrer unter gegebenen baulichen Voraussetzungen unmöglich war und den Neuerwerb einer behindertengerechten Wohnung oder eines entsprechenden Hauses erforderte, oder aber dass man investieren müsste, umfängliche Umbauarbeiten vornehmen lassen müsste, damit beide weiterhin in Delmenhorst bleiben könnten. Kein Gedanke von Eigennutz oder Bereicherung.
Hans mit seinem nun sehr angeschlagenen Nervenkostüm erkannte Unbill, Verrat, Täuschung und Gefahr über sein Hab und Gut. Sigrid, die schlaue Anwältin und Verflossene erkannte ihre Chance, sich nun umfänglich um ihren damaligen Geliebten und seine Angelegenheiten kümmern zu können. Sie entwarf kurzerhand eine Vollmacht, die Hans wie auch meine Mutter aller Rechte beraubte. Ein hingekritzelter Zettel, der nun fortan sie selbst als rechtmäßige Betreuerin und Vormünderin einsetzte.
Das Grauen begann insbesondere für meine Mutter, als dass sie alle Kontovollmachten verlor und nicht mehr an das gemeinsame Geld herankam. Sie war fortan immer gezwungen, bei Sigrid um dieses und jenes betteln zu müssen, dessen genaue Verwendung zu erklären, hoffend, nun die Anschaffung machen zu können, das Geld dafür zu bekommen und sei es nur für Lebensmittel.
In der Folgezeit kristallisierte sich heraus, dass meine Mutter immer weniger zu sagen hatte, Sigrid dagegen mehr und mehr. Unvorstellbar für mich, jemand Fremden dabei zusehen zu müssen, wie dieser Entscheidungen fällt, die ursprünglich meine oder unsere ehelichen Angelegenheiten waren. Überall mischte sie sich ein, alle Entscheidungen wurden nicht mehr zwischen Hans und Thea geklärt, sondern zwischen Thea und ihrer Widersacherin. Der Frau, deren Fotos sie abhängen musste, als sie damals bei Hans einzog.
Hans kam direkt aus dem Krankenhaus in die Reha, danach in ein Pflegeheim, da ausgeschlossen war, dass er in seinem Zustand wieder im Haus in Delmenhorst leben kann. Das Heim lag in der Nähe und Thea konnte so fast täglich hin, um nach ihm zu sehen.
An einem Besuchstag im Neerstedter Krankenhaus begleitete ich meine Mutter. Sah ihn das erste Mal nach seinem Schlaganfall mit seiner so umfänglich veränderten Persönlichkeit. Er erkannte mich zwar, jedoch war es unmöglich, mit ihm mehr als zwei inhaltlich zusammenhängende Sätze auszutauschen, ehe er sprunghaft und gutgelaunt ein völlig anderes Thema begann. Hans war wie ein leicht aufgeladener, schnell zu begeisternder und affektiver Jugendlicher. Anfänglich versuchte er ernst und klar zu bleiben, aber nach wenigen Momenten gingen ihm die Details verloren und er begann fröhlich eine neue Geschichte.
Es war grausig. Ich musste andauernd meine Tränen zurückhalten. Das war nicht der Hans, den ich kennen gelernt hatte. Er sprach nicht gern über Persönliches, und Gefühle waren ein herrschendes Übel. Neben all seiner Undurchsichtigkeit war er ein knuffiger Kerl. Er war mir in all den Jahren dann doch irgendwann vertraut geworden. So dicht und verschlossen war er dann ja auch nicht. Und wenn die beiden sich mal nicht gestritten hatten und ohne gefletschte Zähne im selben Raum sitzen konnten, war er doch recht amüsant, klug und hatte immer mal einen trockenen wie lustigen Kommentar auf den Lippen.
Ohnehin war er ein Unikum. Der erste Dorfpfarrer – evangelisch – mit einem offenen Jeep, lange Kieler Zigarren waren sein Markenzeichen, die mit dem gelben Mundstück, eine hinter dem Ohr, eine zwischen den Zähnen. Überall lagen diese Dinger herum. Hans ist auch Nachkriegskind und hat eins gelernt. Horten. Hans kaufte nicht eine Schachtel Zigarren, sondern mindestens zehn. Und wenn er noch neun hatte, konnte man ja schon mal wieder zuschlagen, wenn es sich ergab. Er hatte auch nicht eins von diesen alten Notebooks aus der Gründerzeit, nein. Ich fand acht davon in seinem Speicher unter dem Dach.
Alle im Dorf sprachen von ihrem verrückten Pfarrer, der für jeden und alles da war. Viele erinnern sich heute noch an seine geistreichen Predigten, die nicht nur von Gott und der Welt handelten, sondern sich auch um Menschen und Menschlichkeit drehten. Es wäre schon was gewesen, wenn man persönlich angesprochen wurde oder wenn es um Themen ging, die im Dorf passieren, erzählten mir die Leute.
Hans fuhr nie allein mit seinem Jeep und seinen Zigarren. Sein wirklich geliebtes Wesen saß immer mit ihm im offenen Zweisitzer und fuhr mit ihm durch den Ort und die Gegend. Nicht meine Mutter. Nein sein Hund. Erst hieß das Tier zwei Mal Hardi. Der dritte Bernhardiner bekam einen neuen Namen: Berni. Alle drei Hunde hat Hans geliebt, wie den Herrn im Himmel. Er war fast nie ohne seinen Hund unterwegs. Auch zuhause lag das gute Tier immer bei ihm im Büro.
Sein „Büro“ bestand im Pastorat aus zwei Räumen, beide vollgestopft mit für mich immer oberinteressantester Technik. Er hatte einen zwanzig Meter hohen Funkmast im Garten für den guten Empfang und für starke, weit reichende Abstrahlung für seine Funkbatterie. Fünf bis neun Geräte in der Größe früherer Hi-Fi Verstärker standen in unterschiedlichen Konfigurationen beieinander, waren miteinander verbunden, zu meinem Bedauern meistens leider ausgeschaltet. Hier schrieb er seine Predigten und traf sich mit jedem, der etwas von ihm wollte. Optisch jedoch hatten diese beiden Räume jedenfalls nichts mit einem Pastorenbüro zu tun.
Ich löcherte Hans mit bohrenden Fragen nach all seinen kuriosen Geräten wenn ich dort war, nervte ihn jahrelang mit meinem Interesse. Er grinste immer vielsagend hinter seinem Bart, zwinkerte durch seine Brillengläser hindurch und schickte mich freundlich, aber bestimmt weg. Ich solle mich um meine Mutter kümmern, die brauche doch so viel Aufmerksamkeit. Er blieb nie ohne Spitzen gegen meine Mutter, nie ohne Augenzwinkern, das alles entschuldigen sollte.
Manchmal kam er auch von selbst an, stand bei einem Besuch bei meiner Mutter plötzlich in der Tür und winkte mich mit dem Zeigefinger heran, wie die Hexe die hungrigen Kinder. Dann zeigte er mir seine neuesten Errungenschaften, einen GPS-Bluetooth Empfänger beispielsweise, damit das alte MS-DOS Notebook mit der ersten in Deutschland erhältlichen Navigationssoftware doch noch in die Lage kommt, die Satelliten zu empfangen und anzuzeigen wo wir waren! In seinem Büro. Phantastisch!
Bei einer anderen Gelegenheit zeigte er mir ein Handfunkgerät, von denen ich schon immer gern mal eins haben wollte. Ich sollte es anschalten, was ich tat.
„22 an Stütz. Haben Ruhestörung beseitigt, Folgemaßnahmen angekündigt. Familie [Pieeeep] kann sich wieder schlafen legen.“
„11 an 22, habe neuen Einsatz mit Sonderrechten. Fahrt doch mal in die…“
Ein Gerät, mit dem man Polizeifunk abhören konnte! Damit hatte er mich wirklich beeindruckt. Funken kannte ich ohnehin schon, aber Polizeifunk abhören war verboten und dreifach interessant.
Damals im Internat schon hatte ich eine CB-Funke gehabt, die regelhaft in ein Auto gehören würde. Ein amerikanisches Gerät mit einer viel stärkeren, hier nicht zugelassenen Sendeleistung. Für mich in meinem Internatszimmer auf dem Land war es mit diesem verbotenen Gerät jedoch möglich, Distanzen bis zu fünfzehn Kilometer zu überbrücken. Damals ohne Mobilfunk und Handys war das schon cool.
Hans lachte natürlich über fünfzehn Kilometer. Mit seinem Eifelturm im Garten und auf den Profifrequenzen für die Amateurfunker galten natürlich ganz andere Reichweiten.
Ein anderes Mal – es sind wirklich nur ganz wenige wertvolle offene Momente mit Hans gewesen, da schenkte er mir eine Agentenkamera. Eine winzige Minox. Jugendliche heute würden das Teil als MP3 Player ausmachen. Sieben Zentimeter lang, zwei breit, einen Zentimeter hoch, aber dennoch eine vollwertige Kamera. So winzige Technik mit mini Filmkassetten, schweineteuer, aber extrem cool. Mit dem Teil konnte ich echt angeben. Ein großes Geschenk, das er mir ohne jeden Anlass einmal in die Hand drückte. Mit Mini Ledertasche, eher ein Futteral, so winzig.
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