Heikes Trauerfeier war ergreifend. In dem Moment, als der Sarg von ihr ins Grab gelassen wurde, öffnete sich die sonst dichte Wolkendecke und ließ einen hellen Sonnenstrahl auf uns scheinen. Sehr besonders.
Als ich Mitte dreißig war, Ende der 90er, kam mein Vater an und sagte, er wolle meinen Bruder und mir jetzt schon unser Erbe auszahlen. Er hatte seine Sandkastenliebe Monika wiedergetroffen, war wieder mit ihr zusammengekommen und lebt nun mit ihr gemeinsam in einem Haus in Bremerhaven. Meine Halbgeschwister aus der zweiten Ehe, sollten wie Harald und ich ausgezahlt werden. Hierdurch wollte er im Falle seines Todes absichern, dass Monika im Haus bleiben könne und sich nicht um Erbstreitigkeiten kümmern müsse.
Unser Vater zahlte meinem Bruder und mir jeweils fünfzehntausend Mark und wir verzichteten auf zukünftige Erbansprüche. Notariell beglaubigt, urkundlich festgehalten. Sven erklärte mir vor einigen Jahren jedenfalls, dass Nele, Lars und er keine Erbteile übertragen bekommen hätten oder aber abgefunden wurden, wie mein Vater uns weismachen wollte. Wir waren draußen, alle anderen drinnen.
Ein weiteres befremdliches Erlebnis hatte ich, als ich bei einem Besuch auf die Familienchronik der Markmanns gestoßen bin. Ein 100 Seiten dicker Wälzer, voll mit Geschichten rund um die Familie, die mein Vater nach der Scheidung von meiner Mutter gründete. Neben all den schwärmerischen, liebevollen Blicken auf seine zweite Familie verlor er über Harald und mich kein Wort. Lediglich meine Mutter fand in wenigstens einem Satz Erwähnung: „Thea war ein Fehltritt, der zum Glück nach wenigen Jahren korrigiert werden konnte.“ So oder ähnlich. Am liebsten hätte ich das Buch verbrannt.
In all den Jahren entwickelte sich leider keine emotionale Bindung mehr, keine Tiefe. Immer blieb es zwischen meinem Vater und mir auf eine gewisse Art oberflächlich und distanziert, eine unüberbrückbare Barriere.
Mein Bruder ist dagegen als Achtzehnjähriger dort hingezogen. Er hatte die Drähte meines Vaters genutzt, um gleichsam seinen Wehrdienst bei der Marine absolvieren zu können und lebte zwei oder drei Jahre im Haushalt meines Vaters. Er lernte auch unsere drei Halbgeschwister besser kennen als ich.
Hier in Bremen hat mich mein Vater auch einmal besucht. Er war in der Nähe und kam einmal tatsächlich hier an. Ich war schon über Vierzig.
Ein großer Teil der Gespräche während seines Besuches drehte sich um den Stadtteil in dem wir lebten. Er war nicht davon abzubringen, seine längst überholten Vorurteile über problematische Brennpunkte zum Besten zu geben, die in Großstädten entstehen.
Ich erinnere dann auch nur schwerlich nette Gesten, angenehmen gegenseitigen Austausch und solche Dinge. Eher fallen mir dann seine Fragen ein wie: „Ja und beruflich bist du ja jetzt hoffentlich auch mal aufgestiegen oder?“, „Kinder- und Jugendnotdienst? So eine Art Kinderheim? Passt du da auf die Kinder auf?“
Auf Kinder aufpassen! Im Leben hatte ich keinen stressigeren Job als dort. 36 traumatisierte Kinder und Jugendliche, drei Gruppen à 12, alle in extrem unklarer Lage. Gewalt und Aggression ohne Ende und höchst anstrengende Schichtdienste. Er erkennt nicht den Wert meiner Arbeit, sieht mich nicht.
Ich hätte entgegnen können, dass er auch nur ein besserer und überbezahlter Busfahrer mit einem extrem teuren Bus ist. Flugkapitän hin, Pilot her.
Er war dann auch schnell wieder weg mit seinem goldenen Mercedes Coupé.
Bedeutsam war auch sein 70. Geburtstag. Standesgemäß wurde Schloss Glücksburg gebucht und alle seine Gefolgschaft, ich war einer davon, und er nebst seiner Monika feierten einen mittelalterlichen Geburtstag im Kellergewölbe mit Geschichtenerzählern, Gauklern und Musikern in alten heruntergekommenen Klamotten neben mittelmäßiger, eher lustlos und automatisiert aufgetragener Verköstigung. Nein, Getränke mussten diesmal nicht selbst übernommen werden, alles war gegeben vom alten Herrn. Die Situation war wirklich grotesk. Mein Bruder Harald kam aus Brasilien, alle drei Kinder aus der zweiten Ehe, Sven mit Petra und Nachkommenschaft, Nele mit Thorsten und Kindern, Lars mit seiner damaligen Partnerin auf der einen Seite, dann die drei Kinder von Monika aus ihrer ersten Ehe mitsamt Kindern und einigen weiteren Freunden kamen zusammen, um den Schöpfer des Ganzen zu feiern, meinen alten Herrn. Er fühlte sich gut, prahlte mit seinen vielen Nachkommen erster und zweiter Generation.
Ich dagegen fühlte mich nicht zugehörig, fremd wie ein Besucher, trank nur Kaffee, habe mich nicht wirklich amüsiert und war froh, als ich wieder auf dem Heimweg war. Zu meiner Familie. Nach Hause.
Schon blöd, wenn man sich nicht zuhause fühlt bei den eigenen Eltern. Wenn alles so fremd ist bei Besuchen, wenn man steif bei denen im Wohnzimmer sitzt, sich nicht anlehnen möchte und zudem Hinweise erhält, wie man die gute Tasse in der Hand zu halten hat und wofür der Henkel ist.
Zuletzt, das war Anfang 2008, schenkte er seinen hiesigen Kindern – Harry war in Ipanema und zu weit weg – eine Dreitageskreuzfahrt von Kiel nach Oslo und zurück.
Ich habe mir tatsächlich gewünscht, in den drei Tagen auf dem Luxusdampfer mal mit ihm in ein persönliches Gespräch zu kommen, mal das eine oder andere an und auszusprechen. Vielleicht auch eine blöde Idee. Es hat ohnehin nicht geklappt. Einerseits habe ich mir vorgenommen, einen geeigneten Moment zu erkennen, in dem es sich vielleicht lohnen könnte, andererseits hatte ich auch nicht den Schneid, ihm zu eröffnen, dass ich Interesse an einem Gespräch unter vier Augen hätte. Ich kann ihm nicht vorwerfen, dass er nicht mit mir reden wollte. Er wusste ja nichts von meinen Vorüberlegungen.
Aber es kam zu nix. Alle Zusammenkünfte während der Fahrt blieben auf schmerzlich oberflächlichem Geplänkel hängen. „Na Michael, Ha, ha, ha, das ist mal ein feines Boot oder? Amüsierst du dich auch? Ja? Schön.“ Eine Antwort war nicht nötig. Er feierte sich, seine super Idee, uns mal die Welt des Luxus zu zeigen und betonte mehrfach, wie großartig er seine Idee fand, uns so was Tolles bieten zu können. (fünf Tickets à Hundertfünfzig Euro) Getränke mussten wir diesmal selbst zahlen.
Eine wirklich blöde Kurzreise. Das Schiff war natürlich beeindruckend. Alles sehr schick, teure Läden, eine „Einkaufsstraße“ an Bord. Vierzehn Ebenen zum Erkunden. Ich war überall, wo man mich nicht sofort wieder weggeschickt hat. Durchgangsverbote, mit einer Kordel versehen, habe ich ignoriert und übersprungen in der Erwartung, noch mehr Interessantes zu entdecken. Zuletzt habe ich mich an Deck zu weit in den Wind über die Reling gehängt. Neptun war offenbar beim Augenarzt gewesen und brauchte eine neue, teure Gleitsichtbrille. Zack, war die meine durch eine plötzliche Windböe in Bruchteilen einer Sekunde von der Nase weg auf dem Weg zur Nase des Königs der Meere.
Wirklich eine blöde Reise. Wir blieben uns fremd. Irgendwie. Aber ich liebe das Meer, Schiffe und die Seefahrt wie er. Und Fliegen ist das Größte. In dem Punkt sind wir beide eins. Uns menschlich nah kommen hatte dagegen keine Chance.
4. Kalte Reise durch die weiße Nacht
Ohne Nadia wäre ich völlig kopflos. Es tat so gut, von allem nur die Hälfte denken zu müssen, weil sie die andere Hälfte übernahm. Gut, dass sie so ruhig ist, so besonnen und so nah. Es war spät geworden, vier Uhr nachmittags und schon zappenduster. Mir war elendig kalt, als wir losfuhren. Erst vor wenigen Tagen kam der Winter kalt und überraschend.
Trotz Heizung zitterte ich am ganzen Körper. Es war aber mehr als frieren. Ich war höllisch aufgeregt, wusste nicht, was mich erwartet. Immer wieder schüttelte es mich. Immer wieder spürte ich zum Glück die Nähe Nadias, die mich auf dem Boden hielt, mir unglaublich viel Kraft gegeben hat, alles Kommende durchzustehen.
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