Wann immer ich die beiden besuchte, war ungeachtet besten Wetters, blauen Himmels und ländlicher Idylle meistens dunkle Kriegsstimmung. Hans, meist muffig, zog sich zu seinen Funkgeräten in sein Arbeitszimmer zurück und zu seinen zahlreichen kleinen Gadgets, die er sich immer besorgte, sobald man sie bekommen konnte. Unterschiedlichste Fotokameras, die neuesten UKW Handgurken, wie man sie im Jargon nennt, Handfunkgeräte, Miniaturfernseher, die ersten Laptops, lauter so Sachen, mit denen er sich beschäftigte. Oder seine Funkerkumpel kamen vorbei – sahen so aus, wie die IT-Nerds, die man heute so kennt, und man sprach über wichtige Dinge bis spät in die Nacht. Internet gab es noch nicht wie heute, Verbindungen hatte man durch ein „Mailboxsystem“. Mit einem Vorläufer eines Modems, per Akustikkoppler wurde ein Computer über eine Telefonnummer angerufen und „Daten“ übertragen. Stundenlang piepste die Übertragung leise und am Ende hatte man beispielsweise eine Tabelle über wichtige Funkfrequenzen. Wahnsinnig spannend damals. Heute kalter Kaffee.
Meine Ma hingegen entleibte sich in aller Regel, wie gemein, herzlos und gefühlsarm ihr Mann doch sei, wie schrecklich es doch sei, mit diesem Menschen zusammen leben zu müssen. Auf Hinweise, doch mal über eine Trennung nachzudenken antwortete sie stets, dass sie ja so von ihm abhinge. Die Spritzen könne sie sich nicht allein geben und finanziell würde es ja ohne sein Geld auch nicht klappen.
Hunderte Male erlebte ich derartige Auseinandersetzungen immer nach dem gleichen Schema. Hans brummelte, zog sich zurück, und meine Mutter litt. Sie verbreitete ihre leidvollen Erfahrungen mit Hans auf der gesamten Nordhalbkugel. Jeder sollte erfahren, wie gemein er doch war.
Im Ort, wusste man von der Hassliebe der beiden und gab nichts mehr drauf. Sie hatten natürlich auch Momente, in denen sie sich gut vertrugen. Während ihres einzigen gemeinsamen Urlaubes nach Ägypten waren sie sogar richtig verliebt ineinander.
Nun jedoch überwog die schlechte Stimmung, Streit, Isolation, Abkehr. Auseinandergelebt, starteten sie trotzdem nach Hans‘ Ruhestand noch mal neu durch. Nachdem sie aus dem Pastorat ausziehen mussten, kauften sie ein kleines Haus in Delmenhorst. Ein Traum aus Klinker, mitten im Ortskern direkt neben der Kirche. Sie hatten es sich wirklich gemütlich eingerichtet. Ein großer Garten, tolle Terrasse, einfach schön. Die allgegenwärtige Stimmung war jedoch überwiegend im Keller. Man ging sich aus dem Weg, sprach nur Organisatorisches ab. Jeder lebte für sich. Sie waren gemeinsam einsam. Es gab bereits 2007 erste Überlegungen, wie ein Leben nach einer möglichen Scheidung aussehen könnte. So wie meine Mutter war, hat sie mit jedem menschlichen Wesen darüber ausschweifend diskutiert. Außer mit Hans.
Dann verschlimmerte sich die Lage noch mehr. Erst stürzte Berni, der große Bernhardiner die kleine Stiege im Haus herunter, brach sich verschiedenste Knochen und war nach wochenlangen erfolglosen tierärztlichen Bemühungen nicht mehr zu retten und wurde eingeschläfert.
Kurz danach erlitt Hans einen Schlaganfall, der seine Persönlichkeit eines gebildeten intellektuellen Mannes in die eines etwa vierzehnjährigen Jungen zurückwarf. Hans versuchte anfangs noch, das fehlende Gedächtnis zu kaschieren, nutzte gut klingende Floskeln, um etwas Schlaues zu sagen. Er erkannte nur noch wenige, und an sinnhafte, perspektivische Gespräche war einfach nicht mehr zu denken.
Das war jedoch nur der Anfang einer ziemlich schrecklichen Abfolge von Ereignissen.
Ich versuchte mich auf den dunklen Spurrillen zu halten, bloß nicht auf die vereisten Stellen in der Mitte der Straße oder an den Rändern zu kommen, denn das hieß noch weniger Grip und noch mehr Gefahr. Schön langsam, nur wenige behutsame Lenkbewegungen und bitte auf keinen Fall plötzlich bremsen müssen.
Ich war nur wenige Male in der neuen Wohnung gewesen. Meine Ma war im Frühsommer erst richtig eingezogen. Neue Fenster hatte sie auch noch bekommen und als endlich alles fertig war, zeigte sie allen lieben Leuten um sie herum ihr neues Domizil, war total froh und selig, stolz, den Absprung nach den sich zugespitzten Ereignissen am Ende doch noch geschafft zu haben.
Viele Leute hatten sie unterstützt. Andreas, der allzeitverfügbare Handwerker. Wenn sie nicht warten konnte, bis ich Zeit hatte, und das kam oft vor, rief sie ihn an. Er half wo er konnte und stand ihr seelisch bestimmt oft zur Seite. Sven und Petra, eigentlich gehören die ja zur Familie meines Vaters, wohnten drei Dörfer weiter und waren für sie da. Sie haben sie von A nach B gefahren, ihre Sorgen angehört, sie besucht und eingeladen, ihr beigestanden, wenn es ihr schlecht ging. Dann gab es noch ihre gleichaltrigen Freundinnen und Freunde Hilde, Beate, Klaus, Gregor und wie sie alle heißen. Es beruhigte mich, zu wissen, dass meine Mutter Bekanntschaften hatte und Freundschaften pflegte. Sie hatte immer Termine. Als Pastorenfrau kannte sie ohnehin jeden und jeder sie. Ein sicheres Netz im Ort und eine schicke kleine Eigentumswohnung, die ihr keiner mehr nehmen konnte. Eigentlich ein sehr guter Plan.
Dann verhalf Sven ihr als Rentnerin doch noch zu einem Auto aus seiner Firma über einen Kredit, den sie unter normalen Umständen vielleicht gar nicht mehr bewilligt bekommen hätte.
Im Herbst zog zu guter Letzt auch noch die Hündin Lulu bei ihr ein, die sie über eine Zypernhund Nothilfe vermittelt bekommen hatte. Ein liebes kleines weißes Tier, das richtig gut zu ihr passte, sie körperlich nicht allzu sehr forderte und eine ruhige Seele hatte.
Eigentlich ein wirklich guter Plan.
Geplatzt nach nur wenigen Monaten.
Herzschlag. Gestorben.
Mitten in der Planung ihres Tages. Herausgerissen aus dem Leben, wie man so sagt. Um halb zwölf wollte sie Norbert, ein Bekannter abholen. Er hatte versprochen, sie zum Anwalt zu fahren. Es gab vieles zu besprechen. Einerseits Scheidungsüberlegungen anstellen. Jetzt wo es wirklich keinerlei Gemeinsamkeiten mehr gab. Wo sich die Anwältin Hans‘ bereits einschneidend in alle Dinge der gemeinsamen Ehe eingemischt hatte. Andererseits, um eben Hans‘ Vollmacht anzufechten, die dieser in seinen augenscheinlich letzten wachen Momenten seiner Anwältin unterschrieb. Der Vollmacht gemäß sollte künftig sie sich selbst anstelle meiner Mutter vollumfänglich um alle seine ihn betreffenden Angelegenheiten kümmern. Das hat sie auch getan. Und wo sie war, hinterließ sie eine Schneise aus verbrannter Erde.
Angefangen hatte es wie gewohnt mit einem Streit um Geld, Ausgaben, die ihm plötzlich aufgefallen seien. Nach Hans‘ Schlaganfall hatten Streitigkeiten völlig andere Dimensionen. Hans, nun leider ohne den notwendigen Überblick konstruierte sich aus der akuten Gefühlslage bedrohliche Situationen, fing an zu schreien, tobte und schmiss meine Mutter aus dem Krankenzimmer. Man konnte ihn anfangs wegen eines Bruches in der Hüfte nicht entlassen, später nicht, weil er weder psychisch noch physisch stabil genug war. Hans war durch eine weitere Folge seines Schlaganfalls halbseitig gelähmt und konnte in dem Zustand nicht mit breitem Rollstuhl in das nun viel zu verwinkelte und mit Absätzen und Treppen versehene alte Haus zurück, das er erst vor einigen Jahren gekauft hatte. Hans also fühlte sich plötzlich von meiner Mutter hintergangen, nachdem diese ihm zu erklären versuchte, dass er nicht ohne Weiteres wieder nach Hause kommen könne, und rief Sigrid an. Seine Jugendliebe. Beide hatten damals jemanden anderen geheiratet, waren sich aber in all den Jahren nah geblieben. Hans‘ erste Frau war gestorben. Nach ihrem Tod heirateten Hans und Thea. Sigrid war jetzt Anwältin und Notarin. Sie hatte sich vor Jahren von ihrem Mann getrennt und sollte ihn nun beraten, was er tun könne, um zu verhindern, dass meine Ma sein ganzes Geld ausgäbe.
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