Doch ich spürte seine und auch die neidischen Blicke der beiden Mädchen und wollte nichts wie weg hier. So schnell wie möglich trank ich das heiße Getränk aus, legte genug Geld auf den Tisch, stand auf und wandte mich ab, ohne den Jungen oder die Mädchen noch eines Blickes zu würdigen.
Einen kurzen Moment lang wusste ich nichts mit mir anzufangen und stand etwas planlos an dem großen Springbrunnen herum. Während ich mich angestrengt darauf konzentrierte, nicht zu dem Jungen hinüber zu sehen, fragte ich mich, wohin ich jetzt gehen sollte. Es dauerte eine kleine Weile, bis mir wieder einfiel, dass meine Mutter sich in dem Schuhgeschäft auf der anderen Seite des Springbrunnens befand.
Schnellen Schrittes bewegte ich mich von dem Brunnen weg und auf den Eingang des Schuhgeschäfts zu, ohne mich umzudrehen. Ich wollte so schnell wie möglich von dem Café verschwinden und den Blicken des Jungen und der beiden Mädchen entkommen, die ich nach wie vor in meinem Rücken spürte.
Während ich auf das Schuhgeschäft zusteuerte, sah ich den Jungen und vor allem seine unglaublichen blauen Augen vor mir, deren Anblick sich auf meine Netzhaut eingebrannt zu haben schien. Und auch wenn ich es nicht wollte, konnte ich nichts dagegen tun, dass ich plötzlich stehen blieb und mich noch einmal umdrehte. Ich stand direkt im Eingang des Schuhgeschäfts und spähte zu der Bank an dem großen Springbrunnen rüber, doch der Junge war nicht mehr da. Er hatte seinen Platz verlassen.
Eine eigenartige Mischung aus Verwirrung und Erleichterung machte sich augenblicklich in mir breit. Kopfschüttelnd senkte ich meinen Blick und schmunzelte; sicher hatte ich mir nur eingebildet, dass er mich so angestarrt hatte. Vermutlich war es nichts weiter als ein zufälliger Blickkontakt zwischen uns gewesen. Und doch … seine blauen Augen und wie sie mich fixiert hatten …
Ich schluckte und versuchte, den Jungen aus meinen Gedanken zu vertreiben.
Und gerade als ich mich wieder umdrehte und das Schuhgeschäft betreten wollte, ging plötzlich alles sehr schnell.
Ich wandte meinen Blick von der Bank, auf der gerade noch der Junge gesessen hatte, ab und wollte mich wegdrehen, als ich auf einmal eine Bewegung vor mir wahrnahm. Es dauerte eine Sekunde, bis mir klar wurde, was für eine Bewegung das war. Jemand kam geradewegs auf mich zugerannt. Ich stutzte und runzelte verwirrt meine Stirn, doch es bestand kein Zweifel, dass die Person genau auf mich zurannte. Im selben Moment ertönte über meinem Kopf ein ohrenbetäubender Knall und der Boden unter meinen Füßen begann zu beben. Ich spürte sengende Hitze über mir und riss meinen Kopf hoch. Die Decke über dem Eingang des Schuhgeschäfts, über mir , war plötzlich explodiert, eine Feuerwelle rollte rasend schnell auf mich zu, Betonteile krachten von der Decke zu Boden und dicker schwarzer Rauch umhüllte das Geschehen.
Das alles geschah in Sekundenbruchteilen und es gab nichts, das ich hätte tun können, um zu verhindern, dass ich von der Explosion erfasst wurde. Merkwürdig … meinem Unterbewusstsein war vollkommen klar, dass ich in den nächsten Sekunden sterben würde und es hieß doch, in solchen Momenten zöge das gesamte Leben eines Menschen vor seinem geistigen Auge an ihm vorbei, doch das Einzige, was ich sah, war der Junge, der auf der Bank gesessen und mich aus seinen unglaublichen Augen angestarrt hatte.
Aber ich sah ihn überhaupt nicht vor meinem geistigen Auge, ich sah ihn plötzlich wirklich!
Genau in dem Augenblick der Detonation über mir, erkannte ich die Person, die auf mich zurannte; es war der Junge! Als er noch etwa drei Meter von mir entfernt war, stürzte er sich mit ausgestreckten Armen auf mich und erreichte mich, kurz bevor ich von der Feuerwelle und den herabstürzenden Trümmerteilen erfasst wurde. Die Wucht seines Körpers riss mich von den Füßen und stieß mich gute zwei Meter von der Explosion weg.
Ich landete unsanft auf dem Boden, spürte immer noch enorme Hitze über mir und atmete stickige giftige Luft ein. Trotzdem riss ich meine Augen auf und richtete mich ein Stückchen auf. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich dem Jungen direkt in die Augen.
Er lag genau vor mir auf dem Boden und erwiderte meinen Blick eindringlich.
Um uns herum herrschte das reinste Chaos; Menschen schrien und rannten in alle Richtungen davon, dichter Rauch breitete sich über und um uns herum aus und ein schriller Alarm hallte durch das ganze Einkaufszentrum. Ich nahm kaum etwas von alldem wahr, so gebannt starrte ich den Jungen an. Ich hatte keine Ahnung, wie er es geschafft hatte, aber er hatte mir gerade das Leben gerettet. Er hatte sich auf mich gestürzt, hatte mich rechtzeitig erreicht und vor der Explosion und den herabstürzenden Trümmerteilen beschützt.
Ich schluckte und öffnete meinen Mund, brachte jedoch keinen Ton heraus. Und selbst wenn ich etwas hätte sagen können; genau in dem Moment, in dem ich meinen Mund öffnete, sprang der Junge plötzlich auf, wandte sich ab und lief einfach davon. Ehe ich mich auch nur rühren konnte, war er in dem dichten Rauch verschwunden.
„Amelia!?“ Ein hysterischer Schrei holte mich in die Realität zurück und meine Mutter stürzte sich auf mich. „Um Gottes Willen, geht es dir gut, mein Schatz?“
Meine Mutter umarmte mich, nahm mein Gesicht in ihre Hände und küsste mich ab. Sie drückte mich ganz fest an sich und begann heftig zu schluchzen.
„Mama“, versuchte ich sie zu beruhigen, „es geht mir gut.“ Was ich selbst kaum glauben kann!
Meine Mutter schluchzte. „Oh, Gott sei Dank! Gott sei Dank! “
Ich blickte an mir herunter und bewegte meine Glieder und meinen Kopf; ich schien tatsächlich völlig unverletzt zu sein. Wie um alles in der Welt war das möglich? Wie hatte der Junge das gemacht? Ich musste ihm nachlaufen und ihm danken. Ich musste ihn fragen, wie er es hatte schaffen können, mich rechtzeitig zu erreichen. Außerdem musste ich mich vergewissern, dass es ihm gutging!
In dem Moment stürmten Sanitäter und Feuerwehrleute den Laden, sie löschten die kleinen Flammen, die die Explosion hinterlassen hatte, und versorgten die Menschen, die in der unmittelbaren Nähe gewesen waren.
Als sie mich untersuchen wollten, sträubte ich mich. Ich musste den Jungen finden!
„Sei doch vernünftig, Mädchen“, sagte der Sanitäter. „Du könntest ernsthafte Verletzungen davongetragen haben!“
„Amelia, du musst dich untersuchen lassen“, beharrte auch meine Mutter. „Es ist ein Wunder, dass es dir gut geht; du warst am nächsten an der Tür dran, als es passierte.“
Nein, es ist kein Wunder , dachte ich. Er war es. Er hat mir das Leben gerettet.
„Mir geht’s gut“, sagte ich entschieden und stand auf. Ich kam problemlos auf die Beine und spürte nach wie vor keinerlei Anzeichen einer Verletzung.
Der Sanitäter packte meinen Arm. „Wir müssen dich untersuchen. Es dauert auch nicht lange.“
Ich riss mich los. „Es geht mir gut, ehrlich “, rief ich und bevor mich jemand aufhalten konnte, lief ich los. Ich sprang über die Betontrümmer und rannte aus dem Schuhgeschäft hinaus. Ich blickte mich in alle Richtungen um und hielt Ausschau nach dem Jungen, der mir soeben das Leben gerettet hatte. Ich schaute nach rechts und links, nach oben und unten, lief ziellos durch die Gegend und suchte nach ihm, doch ich konnte ihn nicht finden.
Gerade als ich die Hoffnung aufgeben und zurück zum Laden laufen und mich untersuchen lassen wollte, entdeckte ich ihn plötzlich doch. Er stand etwa dreißig Meter von mir entfernt an einer Ecke und spähte unauffällig zu dem Schuhgeschäft rüber.
Schnellen Schrittes ging ich auf ihn zu, dabei betrachtete ich ihn und suchte nach erkennbaren äußeren Verletzungen. Er war etwas verdreckt und sein weißes T-Shirt war an einigen Stellen zerrissen und schwarz, aber ansonsten schien auch er vollkommen unversehrt zu sein. Von blutigen Wunden war keine Spur zu sehen. Wie konnte das nur möglich sein?
Читать дальше