Dieser „Club“ traf sich etwa zweimal im Monat und ich verstand einfach nicht, warum meine Mutter immer noch dabei war, aber sie meinte, sie müsste dahin, wenn sie weiterhin „zur Gesellschaft dazu gehören wollte“.
„Willst du mitkommen?“, fragte meine Mutter mich jetzt.
Ich antwortete nicht sofort, sondern sah sie skeptisch an. „Erstmal geh ich Zähne putzen“, sagte ich ausweichend und lief nach oben.
Während ich meine Zähne putzte, überlegte ich, was ich sonst bis heute Abend anstellen sollte. Mir fiel nichts ein, also sprach eigentlich nichts dagegen, meine Mutter zu begleiten, bis auf die Tatsache, dass ich solche Dinge wie eine Maniküre verabscheute.
Ich ging wieder nach unten und traf meine Mutter im Flur, die sich schon fertig zum Ausgehen machte. Sie warf mir einen kurzen Blick zu und fragte abermals: „Und? Möchtest du mitkommen?“
Nachdenklich betrachtete ich meine Mutter eine Weile, wie sie ihr Outfit vor dem Spiegel zurechtrückte und an ihren Haaren herum zupfte, und fragte mich unwillkürlich, ob sie wirklich meine Mutter war. Ich hatte so gut wie nichts mit ihr gemeinsam; sie tat viel für ihr Äußeres und legte Wert darauf, gut auszusehen und gut angezogen zu sein (ein ansteckendes Merkmal der reichen Ehefrauen, vermutete ich), wohingegen ich mit meinem Aussehen ziemlich locker umging. Meine Mutter machte Yoga und tanzte für ihr Leben gern, ging regelmäßig zur Maniküre und Kosmetikerin und liebte es, shoppen zu gehen, ich hingegen fand das alles eher ermüdend. Und meine Mutter war eine hervorragende Köchin und Bäckerin, während mir sogar die einfachsten Gerichte total misslingen konnten. Außerdem war meine Mutter einfach eine wunderschöne Frau, groß und schlank, mit langem blonden Haar, hellblauen Augen und sehr sinnlichen Lippen. Von ihrem hinreißenden Äußeren hatte ich nicht viel geerbt; ich war klein und hatte eine durchschnittliche Figur, braune Haare und dunkelgrüne Augen und volle, wenn auch nicht so toll geformte Lippen wie meine Mutter. Ich fand mein Aussehen okay, wenn ich auch zugeben musste, dass ich nicht so sehr darauf achtete und nicht viel tat, um besonders hübsch auszusehen.
Meine Mutter drehte sich zu mir um und zog fragend die Augenbrauen hoch. „Na?“
Ich zögerte. Ich war erst einmal mit ihr bei der Maniküre gewesen und das war fast noch langweiliger gewesen als den ganzen Tag zu Hause zu verbringen. Und ich mochte es nicht, wenn irgendwelche fremden Leute an meinen Händen herum fummelten.
Doch weil ich nichts Besseres zu tun hatte und meine Mutter mich so glücklich anstrahlte, nickte ich achselzuckend. „Wieso eigentlich nicht“, meinte ich und zog mir meine Schuhe an.
Wir betraten das Einkaufszentrum und ich folgte meiner Mutter ins Obergeschoss, wo das Nagelstudio lag, in dem sie sich schon seit Jahren ihre Nägel machen ließ. Die Ladeninhaberin begrüßte meine Mutter fast wie eine Freundin, mit Küsschen auf die rechte und linke Wange und einer überschwänglichen Umarmung. Nach der freundschaftlichen Begrüßung wies sie uns zwei Plätze zu und bot uns ein Getränk an, dann machte sich auch schon je eine Mitarbeiterin an unseren Händen zu schaffen.
Nach fast einer ganzen Stunde, in denen ich das Säubern, Feilen und Lackieren über mich hatte ergehen lassen, fühlten sich meine Hände so sauber und rein an, dass sie mir fast fremd vorkamen.
Meine Mutter bezahlte und wir verließen den Laden.
„Und wie findest du’s?“, fragte sie mich.
„Ganz gut“, log ich und brachte ein Lächeln zustande.
Meine Mutter durchschaute mich sofort und schnalzte missbilligend mit der Zunge. Dann blieb sie vor einem schicken Schuhgeschäft stehen und sah interessiert in die Schaufenster.
„Ich geh da mal kurz rein“, meinte sie.
Ich nickte amüsiert, da ich genau wusste, was „kurz“ zu bedeuten hatte. Glücklicherweise befand sich direkt gegenüber von dem Schuhgeschäft ein hübsches Café, wo ich warten konnte.
„Ich warte da auf dich“, sagte ich und deutete zu dem Café hinüber.
Meine Mutter lächelte verständnisvoll. „Okay, mein Schatz.“
Dann war sie auch schon in dem Laden verschwunden und ich schlenderte zu dem Café. Viele Tische befanden sich außerhalb des Lokals um einen großen Springbrunnen herum verteilt. Ich suchte mir einen davon aus und nahm Platz. Es dauerte keine zwanzig Sekunden, da war auch schon ein Kellner bei mir. Er war ein attraktiver Südländer und schenkte mir ein freundliches Lächeln.
Ich bestellte einen Cappuccino und er verneigte sich leicht vor mir, ehe er davon wuselte und die Bestellung am nächsten Tisch aufnahm.
Ich schaute ihm kurz nach und unweigerlich huschte ein leichtes Lächeln über mein Gesicht. Als ich mich abwenden wollte, blieb mein Blick zufällig an den zwei Mädchen hängen, die zwei Tische weiter saßen und aufgeregt miteinander tuschelten. Dabei verdeckten sie ihre kichernden Gesichter immer wieder hinter den Speisekarten und spähten dann immer über diese hinweg zu etwas offensichtlich furchtbar Interessantem, das sich auf der anderen Seite des Springbrunnens befinden musste.
Ich runzelte kurz belustigt meine Stirn über die beiden peinlichen Mädchen und wandte mich dann kopfschüttelnd von ihnen ab. Weil es hier ansonsten allerdings nichts annähernd Interessantes zu sehen gab, sah ich schon nach wenigen Sekunden wieder zu ihnen rüber und überraschenderweise starrten die Mädchen jetzt zu mir herüber. Stirnrunzelnd drehte ich mich um, um zu sehen, was sie anstarrten, doch es schien tatsächlich so zu sein, dass sie mich anguckten. Als unsere Blicke sich wieder trafen, wandten die Mädchen sich rasch ab und spähten schon wieder herüber zur anderen Seite des Springbrunnens.
Und dieses Mal folgte ich ihrem Blick.
Wenn ich in der Sekunde gewusst hätte, dass ich gleich zum ersten Mal den Jungen sehen würde, durch den sich mein ganzes Leben von Grund auf verändern würde, dann … ja, was dann eigentlich? Vielleicht hätte ich dann genauer oder aufmerksamer hingeschaut oder hätte sein Verhalten genauer beobachtet. Vielleicht hätte ich dann lieber gar nicht erst hingesehen?
Aber Tatsache war, ich sah hin, ohne mir irgendetwas dabei zu denken.
Er saß auf einer Bank neben dem großen Springbrunnen, hatte die Arme vor seiner Brust verschränkt und – und das fand ich tatsächlich etwas merkwürdig – er sah mir direkt in die Augen. Normalerweise hätte ich mich angesichts dessen gleich wieder abgewandt, aber es war mir nicht möglich. Ich hatte noch nie so einen Menschen gesehen.
Er war wohl so ungefähr in meinem Alter und er war nicht hübsch, sondern schlichtweg wunderschön. Er hatte kurze dunkle Haare, volle sinnliche Lippen und eine gerade perfekte Nase. Soweit ich das im Sitzen und aus dieser Entfernung beurteilen konnte, war er ziemlich groß und schlank, hatte breite Schultern und das weiße T-Shirt spannte leicht an seinen Brustmuskeln. Er sah unglaublich aus. Und noch dazu sah er mich unverwandt an. Der Blick aus seinen strahlend blauen Augen war von solch starker Intensität, dass ich seine Augenfarbe auch bei der Entfernung zwischen uns deutlich erkennen konnte und dass ich glaubte, Stromschläge darüber zu kriegen.
Ich schluckte und spürte, wie ich rot anlief. Mit all meiner Willenskraft wandte ich meinen Blick wieder von dem Jungen ab. Dass er mich ununterbrochen anstarrte, erklärte jedenfalls die Blicke der beiden Mädchen, allerdings fragte ich mich unweigerlich, warum so ein Junge jemanden wie mich anglotzte. Die einzige plausible Erklärung, die mir spontan einfiel, war, dass ich irgendetwas Komisches an mir hatte und mit einem Mal fühlte ich mich peinlich berührt.
Der Kellner kam wieder an meinen Tisch und brachte mir meinen Cappuccino. Ich war äußerst dankbar, dass er kurz die Sicht auf den Jungen verdeckte und am liebsten hätte ich ihn gefragt, ob ich irgendetwas Peinliches im Gesicht hatte, aber ich traute mich nicht. Und so entfernte der Kellner sich wieder und ich nippte an meiner Tasse und bemühte mich angestrengt, den Jungen nicht noch einmal anzusehen.
Читать дальше