„Ich glaub, ich bin im falschen Film“, dachte Kirstin gerade noch, als der Richter auch schon kurzen Prozess machte: „Die Verhandlung ist geschlossen!“
Während Igor und der Juniorchef Arm in Arm unter dem Beifall der älteren Dame den Gerichtssaal verließen, packten die Verbliebenen ihre Akten und strebten dann ihren jeweiligen Büros zu.
Erik hatte gerade zwei Entenbrustfilets in den Backofen geschoben und wollte sich an die Zubereitung des Dressings für den Feldsalat machen, als aus dem Wohnzimmer die Anfangsakkorde aus den vier Jahreszeiten von Vivaldi erklangen. Jemand rief an, also eilte er über den Flur hinüber in das Zimmer, wo auf dem Mediaschirm unten in einem weiß umrandeten Feld der Name seiner Schwiegermutter zu lesen war. Er nahm die Fernbedienung vom Couchtisch und aktivierte das Bild und zugleich die Kamera, sodass auch die Anruferin ihn sehen konnte. Eine ältere Dame erschien auf dem Schirm, die ihm freundlich zulächelte.
„Hallo Erik, du bist also tatsächlich wieder zurück aus Madrid.“
„Ja, am Freitag schon.“
„Ich will auch gar nicht weiter stören. Kirstin ist wohl noch nicht da?“
„Nein, sie hatte heute einen Gerichtstermin und wollte noch den Abschlussbericht schreiben. Sie wird so in einer halben Stunde hier sein.“
„Macht nichts. Ich rufe an, weil wir Euch für Sonntag zum Essen einladen wollen. Dann kannst du uns auch über deinen Aufenthalt in Spanien berichten. So ein Job im Ausland ist doch bestimmt interessant.“
„Das kann man wohl sagen. Ich habe tatsächlich ein paar gute Neuigkeiten.“
„Fein. Übrigens, es wird wieder dein Lieblingsgericht geben. Ich hoffe, das ist in deinem Sinne.“
„Super ! Wir kommen so gegen dreizehn Uhr. Ist das in Ordnung?“
„Ja und schöne Grüße auch von Papa.“
„Werde ich ausrichten. Also dann bis Sonntag. Wir freuen uns!“
Das Bild auf dem Display verschwand. Erik war begeistert, nicht allein, weil er sich mit seinen Schwiegereltern gut verstand, sondern weil seine Schwiegermutter über eine Gabe verfügte, die in seiner Familie nicht sonderlich verbreitet war: sie war eine exzellente Köchin. Leider war Kirstin aus der Art geschlagen und hatte diese Fähigkeit nicht geerbt, was sie aber nicht so recht wahrhaben wollte und mit der ihr eigenen Beharrlichkeit ignorierte. Es war ja nicht so, dass sie nicht kochen konnte, aber an irgendetwas mangelte es fast immer: die Kartoffeln zu fest oder zu weich, zu salzig oder zu lasch, das Fleisch zu zäh oder der Fisch zu locker, dass er auseinander fiel, zu viel oder zu wenig Gewürz. Dagegen war das, was ihre Mutter auf den Tisch brachte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, immer eine Punktlandung. Und obwohl sich seine Schwiegereltern in den letzten Jahren immer mehr der vegetarischen Küche angenähert hatten, gab es vor allem auf Wunsch von Erik bei diesen Familientreffen Rouladen. Also genau das, wonach ihm nach den Wochen auswärtiger Küche gelüstete. Auch Kirstin würde das gefallen. Heute war wirklich sein Glückstag!
Meine Eltern konnten ihr Glück nicht fassen. Immer wieder berichtete jeder dem anderen von den wunderbaren Ereignissen des Tages, während sie die Entenbrust mit größtem Appetit vertilgten und so manches Glas Rotwein die Kehlen herunter rann. Dieser 1. April 2047 war genauso bemerkenswert wie der vergangene Freitag und war deshalb auch zukünftig immer wieder das Gesprächsthema. Allerdings interessierte mich als Kind die Geschichte meines Vaters deutlich weniger, dafür die Geschichte von Igor weitaus mehr. Meine Mutter hatte sie mir eines Abends als Gutenachtgeschichte vorgetragen und sie hatte mich so fasziniert, dass sie mir dieses „Märchen“ jeden Abend von neuem erzählen musste. Als geübte Rednerin verstand sie es, der Handlung den letzten Schliff zu geben und als aufmerksamer Zuhörer war ich bald in der Lage, jedes Wort in Gedanken auszusprechen, bevor es meine Mutter tat. Noch heute sehe ich das Bild vor mir, als ob es erst gestern war; wie sie auf meinem Bett sitzt, mit ihrer modischen Kurzhaarfrisur, nur eine längere Strähne ihres dunklen Haares fiel über ihre rechte Wange herab, ihren dunklen Augen, die in diesen Momenten voller, ja Zärtlichkeit waren und einem spitzbübischen Lächeln. Und ich war stolz auf meine Mutter, die den unglücklichen Igor wieder, und das war meine feste Überzeugung, auf den Pfad der Tugend zurückgebracht hatte.
Wie gesagt, am Abend des 1. April herrschte bei meinen Eltern die reine Glückseligkeit. Sie malten sich die Zukunft in rosaroten Farben aus, würde doch die Partnerschaft meines Vaters den finanziellen Spielraum und damit die persönlichen Gestaltungsmöglichkeiten deutlich erhöhen. Sie gehörten zwar schon bisher zu den Menschen, die sich glücklich schätzen konnten, über ein angemessenes Einkommen zu verfügen, dass es ihnen erlaubte, sich doch den einen oder anderen kleinen Wunsch zu erfüllen. Große Sprünge waren damit allerdings nicht zu machen. Das würde nun doch, wenn nichts dazwischen kam, etwas anders werden. Das meinem Vater so plötzlich die Partnerschaft angeboten wurde, war eben glücklichen Umständen zu verdanken. Erst ein paar Tage später setzte bei Erik so etwas wie ein kritisches Hinterfragen ein.
Donnerstag, 04.04.2047
Am Donnerstag traf Louis Cortez wie angekündigt in Berlin ein und hatte am Mittag der T. Summerset Consulting AG seine Aufwartung gemacht. Dr. Konzalik nutzte die Gelegenheit, dem CEO von Global Mecánica SA die soziale Errungenschaft des Unternehmens vorzuführen und lud deshalb zunächst in ein separates Gästezimmer der Kantine zu einem Drei-Gänge-Menu ein. Der Küchenchef und sein Team hatten ihrem ohnehin vorhandenem Können noch eins drauf gesetzt und ein bestechendes Werk von Köstlichkeiten serviert. Dies gab der sowieso schon vorhandenen guten Stimmung noch einen zusätzlichen Schub und schaffte ein ausgesprochen angenehmes Gesprächsklima. Bereits während des Essens kam das Gespräch auf den Auftrag, zu dem Dr. Konzalik die Unterlagen bereits am vergangenen Sonntag erhalten hatte. Erik hatte diese in den vergangenen Tagen gesichtet und anhand der Aufgabenstellung seine Vorgehensweise festgelegt. Er war also bestens präpariert und konnte Louis Cortez auf jede seiner Frage eine fachlich fundierte Antwort geben. Der CEO von Global Mecánica SA war sichtlich begeistert, was wiederum Dr. Konzalik in eine geradezu euphorische Stimmung versetzte. Erik konnte seine Verwunderung über die seltsame Wandlung seines früher so gestrengen Vorgesetzten in einen charmanten Gesprächspartner nur mühsam verbergen. Es blieb ihm allerdings nicht viel Zeit ins Grübeln zu geraten, da ihm Louis Cortez, der ihm gegenüber saß, vertraulich die Hand tätschelte.
„Herr Stendahl, es steht ja nun eine längere Zeit der Zusammenarbeit an und ich kann sagen, ich freue mich schon darauf, sie wieder in Madrid begrüßen zu dürfen. Aber ganz sicher werden sie auch noch einige andere Städte unseres schönen Landes kennen lernen, da die Unternehmen der Global Mecánica SA in vielen Landesteilen vertreten sind. Auf jeden Fall werden wir für einen angenehmen Aufenthalt sorgen und ich hoffe, dass wir die Gelegenheit finden werden, auch mal gemeinsam einen guten Wein zu genießen. Vielleicht können sie ja auch ihre Frau überzeugen, sie einmal zu begleiten. Meine Frau würde sich sicher freuen, ihr ein paar exquisite Sehenswürdigkeiten zeigen zu können. Ich meine …“ Er machte eine kleine bedeutsame Pause, um dann fortzufahren: „… Schuhgeschäfte!“
Louis Cortez begann lauthals zu lachen. Dr. Konzalik, der zwar keinen Grund für solche ausgelassene Heiterkeit erkennen konnte, schloss sich dennoch aus taktischen Gründen dem Gefühlsausbruch seines Mandanten an. Merkwürdigerweise wirkte sein Lachen dabei völlig unverkrampft, geradezu gelöst. Erik war verblüfft, ließ doch das Wort Schuhgeschäft unvermittelt die Szene am Flughafen mit dem lustigen Frauentrio und den herabgefallenen Schuhen vor seinem geistigen Auge entstehen und konnte dann zu seiner eigenen Verwunderung nicht umhin, ebenfalls in das Gelächter einzufallen. Die Lautstärke musste beträchtlich und trotz der gut gedämmten Wände und der schweren Tür außerhalb des Gästezimmers vernehmbar gewesen sein, denn ein besorgter Küchenchef trat ein.
Читать дальше