Nicht immer sind wir dabei der gleichen Meinung, zu unterschiedlich ist ja auch unsere Herkunft: Zwei meiner Freunde stammen aus dem Süden des Zweistromlandes, sie haben noch Zugang zu den alten Bibliotheken Babylons gehabt und wissen viel über die Wege der Planeten, die tiefere Bedeutung der Sternbilder zu berichten. Es erstaunt mich immer wieder, wie genau doch schon vor Jahrhunderten der nächtliche Himmel vermessen worden ist, wie exakt alle Bahnen der Gestirne bereits damals berechnet und vorausgesagt wurden. Ja, diese Männer haben mir erst den großen Schatz an Wissen vermittelt, mit dem ich nun selber weiter forschen kann. Einige andere haben ihre Wurzeln eher im Nordwesten, da, wo der Euphrat sich noch durch hohe Berge schlängelt. Sie kennen die tiefsinnigen Mythen der Völker dort, uralte Erzählungen von Helden und Göttern, vom Werden des Erdkreises und vom Streben nach Unsterblichkeit, auch wenn diese uns niemals vergönnt sein wird. Dann wohnen hier in unserer Stadt zwei Philosophen, griechisch gebildet und reich an Kenntnissen über all das, was man einst in Athen diskutierte. Es sind zwei höhere Beamte unseres Staates, aber auch sie betrachten diesen Dienst nicht als ihre einzige Aufgabe, sondern haben sich ihre Neugier, ihre Lust am gelehrten Disput bewahrt. Mit mancher kritischen Frage haben sie uns schon ins Grübeln gebracht, uns gezwungen, alles genau zu bedenken, was wir vielleicht vorschnell für Wahrheit hielten.
Schließlich sind da noch zwei Freunde ganz besonderer Art. Einer von ihnen ist der Vorsteher der jüdischen Synagoge, die im Nachbarort steht, denn dort hat sich eine israelitische Gemeinde versammelt – Familien, die schon seit jenen Tagen, als Judäas Oberschicht hierher verschleppt wurde, hier am Tigris leben. Einige sind auch erst kürzlich hergezogen, weil die Geschäfte ihre Anwesenheit erforderten oder weil sie vor der römischen Herrschaft geflohen sind. Elieser, so heißt unser jüdischer Freund, ist ein schwieriger Mann, aber eben auch ein interessanter Gesprächspartner. Einerseits verfolgt er mit großer Strenge all die vielen Gebote, die seine Religion ihm auferlegt, und ist stolz darauf, zu dem auserwählten Volk eines Gottes zu gehören, der sich selbst für den einzigen hält. Andererseits denke ich manchmal, Elieser lässt sich so gerne auf ein Streitgespräch mit uns ein, nur um sich selbst zu beweisen, daß allein sein Glaube der rechte ist. Dennoch hat er kluge Gedanken und verfügt über ein großes Wissen, vor allem, was die Völker am großen Meer betrifft.
Der letzte, von dem ich berichten muß, ist eigentlich ein Zauberer, eine Art Medizinmann, ein Wahrsager und Heiler. Das sind alles Dinge, die mir eigentlich sehr fremd sind, die mir wenig wissenschaftlich erscheinen. Aber immer wieder überrascht er uns mit einer Voraussage, die tatsächlich eintrifft; mit einem Kräutersud, der entgegen aller Annahme Leiden lindern und sogar heilen kann. Nein, seine Art, sich mit Weihrauch zu umgeben, berauschende Blätter zu kauen, um sich in eine göttliche Sphäre zu versetzen, wie er es nennt – das alles wird mir wohl ewig fremd und auch verdächtig erscheinen. Doch dann verkündet er plötzlich eine Erkenntnis, die so klar und einleuchtend ist, daß sie uns in pures Erstaunen versetzt. Und weil er trotz all seiner Magie ein fröhlicher und geselliger Mensch ist, haben wir auch ihn in unseren Kreis aufgenommen.
Ihr seht, ich bin keineswegs einsam mit meinen Gedanken, meinen Fragen und meinen Erkenntnissen, obwohl mir immer noch das liebste ist, eine Nacht ganz allein auf dem flachen Dach meines bescheidenen Hauses zu verbringen und mit meinen astronomischen Geräten nachzumessen, ob all die uralten Vorhersagen tatsächlich ihre Gültigkeit haben oder ob ich neues Wissen hinzufügen kann. Stets habe ich eine Wachstafel dabei, um alles zu notieren und später den Papyrusblättern anzuvertrauen, auf denen ich meine Beobachtungen eintrage. Und ich habe bereits eine umfängliche Sammlung solcher Blätter, alle mit genauem Datum versehen und mit mancherlei Berechnungen, die ich vielleicht einmal einer großen Bibliothek zukommen lasse. Doch noch sind sie erst der Anfang für ein Werk, das ich der Nachwelt so gerne hinterlassen möchte.
Daß ich weder Weib noch Kinder habe, das mögt Ihr bereits aus all dem, was ich berichtete, entnommen haben. Eine Familie will ja nicht nur gegründet, sondern auch ernährt und gekleidet werden, und das würde mir schon schwerfallen. Doch ich gestehe, dies ist ein vorgeschobener Grund. Die Wahrheit ist, daß ich die Unruhe scheue, die dann in mein Haus einziehen könnte. Mir reicht das Geschwätz meiner Schüler, ihre kindischen Späße, ihre Unaufmerksamkeit gegenüber dem Lehrer und seinen Lehren. Wer sagt mir, daß nicht eigene Kinder ebenso sein werden. Und auch die Anwesenheit eines Weibes, ihre aufdringliche Neugier, ihre oberflächliche Putzsucht, vielleicht sogar ihre Herrschsucht – das alles wäre mir zutiefst zuwider, hat mich bewogen, lieber allein zu bleiben mit meinen Gedanken und meinen Büchern.
Dann jedoch geschah etwas, was mein bisheriges Leben sehr verändert hat, auch wenn es mit einem ganz alltäglichen Besuch begann: Nabu-Nassir, unser babylonischer Freund aus dem Nachbardorf, kam eines abends zu mir, während ich gerade die letzten Schüler verabschiedete. Er trug eine Schriftrolle in der Hand und winkte mir freundlich zu. „Wie lange betrachtest du eigentlich schon das Firmament?“ fragte er mich nach der ersten Begrüßung. „Nun, es werden wohl schon mehr als zwei Jahrzehnte sein,“ antwortete ich. „Warum willst du das wissen?“ Er sah mich an: „Wenn es mehr als zwei Jahrzehnte sind, lieber Freund, wirst du wohl ein bestimmtes Ereignis beobachtet haben, das sich nur alle zwanzig Jahre einmal ereignet. So jedenfalls habe ich es in den Aufzeichnungen unserer Sternkundigen gefunden, und du weißt, sie haben sich selten geirrt. Aber ich will dich nicht lange auf eine Erklärung für meinen Besuch warten lassen. Du verfolgst, wie ich weiß, mit großem Interesse die Bahnen, die Marduk – oder, wie man jetzt auch sagt: Jupiter – über den Himmel zieht. Und du weißt sicher auch, daß dieser Planet nun bald durch das Haus der beiden Fische wandert, das nach dem Glauben meiner Vorfahren der Ishtar geweiht ist, unserer großen Göttin. Jetzt aber wird geschehen, was eben nur alle zwanzig Jahre am Himmel zu sehen ist: Marduk und Kajamanu werden sich begegnen, Jupiter und Saturn werden sich die Hand reichen.“
Ich hatte davon gehört, allerdings hatte ich vor zwanzig Jahren noch nicht auf diese Begegnung geachtet. „Ich danke dir, Nabu-Nassir, daß du mich darauf hinweist,“ sagte ich, „ich hätte es wohl bemerkt, aber die himmlischen Gesetze, denen sie folgen, waren mir nicht bekannt. Umso eifriger werde ich ihre Bahnen verfolgen. Zwanzig Jahre, sagst du, wird es dauern, bis sie sich wieder treffen? Wer weiß, ob ich das dann noch einmal erleben werde.“ Der Freund lächelte geheimnisvoll. „Vielleicht wirst du es sogar noch dreimal erleben, wenn die Götter dir bis zum kommenden großen Regen Gesundheit schenken, was ich von Herzen wünsche.“ Ich muß ihn wohl sehr erstaunt angesehen haben, denn er entrollte die Schrift, die er so lange in der Hand gehalten hatte, und zeigte mir eine Spalte, die mit allerlei Zeichen und Linien bedeckt war.
„Mein Freund,“ sagte er feierlich, „wenn die Weisen von Babylon recht behalten, werden wir Zeugen eines besonderen Geschehens, ja es mag sein, sogar einer Zeitenwende. Es wird etwas Außergewöhnliches geschehen auf der Welt, da bin ich sicher, und wir sollten gemeinsam mit den Freunden nachforschen, was das bedeutet, ob es ein gutes oder ein böses Zeichen ist für die kommenden Jahrhunderte.“ Ich sah ihn nachdenklich an: „Nicht alle unsere Freunde kennen sich aus mit dem Lauf der Gestirne, und auch deren Bedeutung für unser Leben, für das Schicksal dieser Erde ist manchen nicht geläufig,“ sagte ich. „Wollen wir wirklich mit allen darüber sprechen?“
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