Als sie sich zu bewegen begann, war der erste der Terroristen gerade drei Meter vor ihr. Sie sprang nach vor und stellte sich ihnen in den Weg. So stand sie in der Mitte der schmalen Passage und versperrte den Weg. Die Terroristen hätten zwar kein Problem gehabt, an ihr vorbei zu kommen, konnten aber auf ihrer Flucht nach einem missglückten Anschlag nicht mehr klar denken. Vera sah noch, wie der erste der Terroristen sie gleich niederrennen würde und spürte bereits den Stoß, der sie nach rückwärts in die Luft warf. Sie hatte nicht gesehen, dass der zweite Terrorist den Abzug seiner Uzzi für zwei Sekunden durchgezogen hatte. Sie hörte auch nicht den Widerhall der Salve in der engen Passage. Sie dachte, jetzt müsse sie stürzen, doch dem war nicht so. Stattdessen rannte sie aus der Passage, direkt den Terroristen nach, die ohne Problem an ihr vorbeigekommen waren.
Wieder im Sonnenschein des Boulevards de Waterloo schrie sie, so laut sie konnte, da die Terroristen keine zwanzig Meter vor ihr über die Straße hasteten. „Dort laufen die Terroristen“, kreischte sie in Deutsch. Der Passant neben ihr ging seelenruhig weiter, als sei nichts geschehen. Vera schrie noch lauter, der Herr im dunklen Anzug reagierte überhaupt nicht. Da stieß sie plötzlich mit einer älteren Frau zusammen, die durch den Zusammenprall mit Vera fast gestürzt wäre. „Na, na, nicht so stürmisch, du hast Zeit genug, mein Kind, jetzt kannst du schon aufhören so zu rennen“, meinte die alte Dame mit leicht belustigtem Unterton.
Vera blieb stehen und sah die Dame an und dachte, „Die sieht aus, wie meine Oma aus Salzburg.“ Ihre Gedanken waren jetzt völlig durcheinander, doch eine Stimme in ihr sagte plötzlich ganz laut und deutlich, „Vera, aufwachen!“.
„Klar, das war es, ich träume das ganze nur“, sagte sie sich laut vor. „Und jetzt wache ich auf“, nahm sie sich vor.
Aber der Traum ging weiter. So klar war noch nie ein Traum gewesen. Sie sah zum Himmel und konnte alle Einzelheiten der Wolken erkennen. Die Strahlen der hellen Abendsonne, die unter den Wolken grell hervorstach, blendeten sie nicht, sie konnte alle Einzelheiten des Boulevards erkennen. Irgendwie wirkten die Schatten der Flächen, wo die Sonne nicht hinkam, überbelichtet, sie sah dort Einzelheiten, die ihr in solchen Schattenflächen früher nie aufgefallen waren.
„Was für ein seltsamer Traum“, dachte sie, „aber warum kann ich nicht aufwachen.“ Das konnte sie sonst immer, wenn ein Alptraum zu heftig werden drohte. Es war ein Traum mit sehr kräftigen Farben und die Umgebung trat besonders plastisch hervor, eigentlich viel mehr, als es durch die klare Luft nach einem Gewitter überhaupt der Fall sein konnte.
Da vernahm sie die Stimme der Frau, die aussah, wie ihre Oma. „Du stehst noch immer am Boulevard de Waterloo und starrst Löcher in die Luft, Vera.“
„VERA, woher kennen Sie meinen Namen“, stieß Vera hervor.
„Kindchen, Kindchen, jetzt wird es langsam Zeit aufzuwachen und zu erkennen, was los ist“, meinte die alte Dame leicht vorwurfsvoll.
„Ich will doch aufwachen, ich weiß, dass ich träume, aber es geht nicht“.
„Du sollst nicht aus einem Traum aufwachen, sondern aus deinem Leben“, sprach die alte Dame ganz ruhig.
Die Gedanken brachen über Vera herein wie eine Flutwelle. „Die Terroristen, … der Schrei, den keiner hört, Oma…“, an deren Begräbnis vor drei Jahren sie sich plötzlich erinnern konnte. Damals war sie das letzte Mal in Salzburg gewesen.
„Dann bin ich jetzt tot“, stammelte sie.
„Na endlich, langsam kommst du auch schon drauf“. Ihre Oma lächelte. „Willkommen in der Wirklichkeit, mein Kind“, rief sie aus und strahle sie dabei an.
Vera sah ihre Oma an, „aber es gibt doch gar kein Jenseits, das hat die Wissenschaft doch zweifelsfrei festgestellt.“
„Wissenschaft, papperlapapp, was weiß denn schon die Wissenschaft vom wirklichen Leben, doch fast noch gar nichts“, entgegnete ihre Oma trocken.
Vera wollte sich noch nicht geschlagen geben, ihr Intellekt beharrte darauf, dass das nicht sein könne, schließlich war sie ihr ganzes Leben fest überzeugt gewesen, es gäbe nur das Leben auf der Erde und nichts sonst. Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse belegten doch ganz klar, dass alle Gefühle und Gedanken nur Funktionen des Gehirns und der Biochemie des Körpers sind.
Doch ihre Gefühle, die ihrer Meinung nach nur ein Ergebnis der biochemischen Reaktionen verschiedenster chemischer Substanzen in ihrem Gehirn waren, sagten ihr, Oma habe recht.
Oma machte einen Vorschlag. „Wenn du es nicht glaubst, dann gehen wir doch in die Passage zurück und sehen nach, was dort los ist.“ In Vera verkrampfte sich alles. Nein, das wolle sie nicht, stieß sie hervor.
Doch Oma hatte sie an der Hand genommen und es gab kein Zurück mehr. Schon waren sie in der Passage.
Es musste bereits beträchtlich Zeit vergangen sein. Die Polizei hatte die Passage abgesperrt. Vera sah gerade, wie ihr Körper von zwei Sanitätern auf eine Bahre gelegt wurde. Über den Kopf war ein Tuch gebreitet. Sie konnte den Körper gerade noch an ihrem gelben Kleid erkennen, das über und über mit Blut, Schmutz und Gehirnflüssigkeit überzogen war. Der ganze Gehweg war voll Blutlachen, Blutspritzer klebten an der Auslagenscheibe, vor der ihr Körper auf den Asphalt gekracht sein musste. Alles in allem, nicht gerade ein schöner Anblick. Vera schauerte.
Trotzdem gab sie sich einen Ruck und sprach einen der Polizisten an. Sie fragte ihn auf französisch, was denn hier passiert sei.
Dass der Polizist überhaupt nicht reagierte, überraschte Vera nun nicht mehr wirklich. Aber plötzlich wusste sie, dass der Polizist besorgt an seine Tochter dachte, die in einer anderen Passage als Verkäuferin arbeitete und er sich Sorgen machte, dass sich solche Vorfälle womöglich häufen könnten, das erschreckte sie kräftig.
Sie sah Oma an. Diese stand neben ihr und meinte: „Was hast du erwartet, so ist es nun, wenn man da ist, wo du nun bist.“
Vera vergaß fast ihren Schrecken über die gleichmütige Antwort ihrer Oma und rief: „Warum sprichst du immer in Rätseln mit mir, sag mir doch endlich, was los ist!“
„Das tue ich doch die ganze Zeit, aber du willst mir ja nicht glauben. Dein Verstand sagt dir dauernd etwas Anderes, als dir deine Erfahrung sagt, die du jetzt gerade jetzt machst. Es gibt Leute, die hängen halbe Ewigkeiten auf dieser Ebene rum, das hast du doch nicht nötig, Vera.“
„Wer sind diese Leute?“, fragte Vera vorsichtig. „Ach, das sind arme Tote, die sich als Poltergeister oder als Quälgeister anderer Leute bemerkbar machen müssen, die haben kein gutes Leben“, meinte Oma traurig.
„Aber wer sagt mir, dass nicht doch alles ein Traum ist“, widersprach Vera noch immer.
„Und wer sagt dir, ob nicht dein bisheriges Leben der Traum war, und du jetzt gerade im Aufwachen bist“, entgegnete ihre Oma.
Vera kniff sich in den Oberarm und sie spürte sich selbst. „Jetzt siehst du es selbst, hast du das schon einmal im Traum gemacht?“, fragte ihre Oma.
„Aber dann lebe ich ja, denn ich weiß doch ganz sicher, dass es kein Leben nach dem Tod gibt. Ich will ins Hotel zurück.“ Ihr schmutziges Kleid fiel ihr ein, sie sah an ihrem Körper hinab. Das Kleid war strahlend sauber und so gelb, wie es immer gewesen war.
Sie wollte raus aus dieser Szene, die für sie einfach zuviel Unglaubliches und Unerhörtes hatte. „Ich will ins Hotel“, wiederholte sie.
Die Hotelhalle hatte immer noch die selbe Geschäftigkeit, die sie gehabt hatte, als Vera aufgebrochen war. Sie sah zur großen Uhr hinauf. Es war neun Uhr. „Mein Gott, Georg“, wie hatte sie ihn vergessen können. Panik stieg auf. Vera sah sich in der Halle um. Tatsächlich, da saß Georg mit einem großen Blumenstrauß in einem der überdimensionalen Ledersofas, die überall in der Halle aufgestellt waren und machte sich Sorgen. Das wusste sie sofort. Sie wusste, dass er wusste, dass sie aus dem Hotel gegangen war, denn das hatte er an der Rezeption erfahren können.
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