In ihrem Haus hier trafen sich immer öfter Freunde und Bekannte aus den besseren Kreisen der Stadt, für Cindy gewohnt, Chris hatte diesen Umgang seit dem Beginn seiner wilden, bewegten Jugend nicht mehr gepflegt. Er hatte ihn auch nicht vermisst, begann sich aber zunehmend darin zu sonnen und sich sicher darin zu bewegen. Schließlich gehörte seine gesamte Familie und deren Verwandtschaft zu eben diesen Kreisen. Geschäftsleute, Ärzte und Anwälte „und so weiter“, pflegte er zu sagen.
„Stelle dein Leben nicht in den Dienst eines anderen.“
Einer der abendlichen Gäste sagte es. Chris hörte es, aber weil es nicht zu ihm gesagt wurde, interessierten ihn die Worte nicht.
„Jeder sein eigenes, sonst funktioniert es nicht.“
Auch diese Worte interessierten ihn nicht. Es war ein französischer Arzt, ein Berufskollege, der es zu Cindy sagte und mit dem sie ein längeres Gespräch geführt hatte. Ihrer beiden Augen begleiteten Chris, dem Mittelpunkt des Abends – ungewollt – sein natürlicher Charme und sein selbstverständliches Selbstbewusstsein machten ihn dazu. Der größte war er sowieso, aber er war der einzige ohne Abendanzug. Dann platzte zur vorgerückten Stunde, angetrunken und die Haare quer vom Kopf, Tittenmolly in die vornehme Gesellschaft. Sie weinte und verlangte nach Beistand: „nach seelischem Beistand“, schluchzte sie. Sie rannte weinend wieder auf die Straße, nachdem sie die vielen Abendgarderoben gesehen hatte, aber Chris fing die laufende Molly wieder ein, legte seinen langen Arm um sie, brachte sie zurück ins Haus und hörte ihr zu. Sie stank wie eine verstopfte Bierleitung, ihre Kleidung war unordentlich und dreckig. Sie brauchte seelischen Beistand.
Ein Neger war gestorben. Er hatte einfach tot in seiner kleinen Wohnung gelegen. Er war der Vater ihrer Tochter, nein, nicht unehelich, sie – Molly – war mit einem deutschen Mann verheiratet gewesen. Der hatte das hübsche Mädchen nach der Scheidung behalten und erzogen, eine junge Dame inzwischen, nach der sich die Männer umdrehten. Molly hatte seinerzeit vergeblich eine vollzogene Vergewaltigung geltend machen wollen. Ihr Mann wollte sie nicht mehr, wohl aber das Kind. Jetzt weinte Molly um dessen Vater. Es war wohl doch keine Vergewaltigung gewesen – seinerzeit.
„War es auch nicht, war es auch nicht, aber das braucht niemand zu wissen.“
Sie weinte, und er ließ sie weinen, etwas mehr oder weniger beäugt von seinen Gästen. Von Cindy nicht. Die machte sich gerade Gedanken darüber, wozu ihr Mann die Kondome mit Himbeergeschmack brauchte, welche sie in seiner Tasche entdeckt hatte. Für Molly jedenfalls nicht, denn er lehnte die angebotene Belohnung für seinen seelischen Beistand – „von hinten und vorne“ – lachend ab. Trotzdem begleitete er sie das kurze Stück zu ihrer Wohnung. Einer seiner Gäste begleitete ihn auf seine Bitte hin mit.
„Man kann nie wissen“, sagte er.
Im Großen und Ganzen betrachtet, brachte ihm diese Begebenheit, ein größeres Ereignis war es ja nicht, Zustimmung vom beifälligen Gemurmel bis hin zu wohltuendem Lob ein. Eine Begebenheit wurde dann zu einem größeren Ereignis.
Es fand an einem der letzten philippinischen Grillabende des Jahres im Garten und im größeren Kreise von deutsch-philippinischen Ehepaaren mit ihren Kindern statt. Da war einer, der war ziemlich wohlhabend, ein etwas älterer Kerl wie ein Baum, nach allen Seiten hin und mit dem größten Auto deutscher Fabrikation. Er war in allen Restaurants bekannt wegen seines gehobenen Anspruchs betreffs der angebotenen Speisen und Getränke und ging täglich essen. Allein. Aber er galt als guter Gesellschafter.
Gut, seine Ehefrau würde nie unter Gewichtsproblemen im Sinne von zu viel zu leiden haben, dafür war sie einfach nicht der Typ. Sie litt unter dem zu wenig, denn sie war klapperdürr – genauso wie ihre zehnjährige Tochter mit den traurigen schwarzen Augen in ihrem kleinen spitzen Gesicht und den langen, schwarzen Haaren. Es war ein offenes Geheimnis: Sie bekamen beide zuwenig zu essen, viel zuwenig. Der Kerl war geizig. Für seinen Hund gab er mehr Geld aus als für die beiden zusammen. Selbst für philippinische Verhältnisse war das Haushaltsgeld, das seine Frau bekam, äußerst bescheiden. Sie aßen sich bei anderen Leuten durch und klagten nicht. Trotzdem wussten es viele, und sie freuten sich und lachten darüber, dass der fette Hund ihn einmal in die Hand gebissen hatte. Heute lachte niemand.
Der Hund und er langten ordentlich zu, mitgebracht hatten sie nichts, und die Peinlichkeit ihres Verhaltens nahmen sie nicht wahr. Er redete, sogar noch mit vollem Mund, und bot seiner Frau und Tochter von den vorzüglichen Speisen an. Speisen aus ihrer Heimat. Alleine ihr unvergleichlicher, wenn auch undefinierbarer Geruch verführte zum Verzehr. Als beide dankend ablehnten – sie wären noch satt – bat Chris um ein Gespräch mit dem Vielfraß, dem Zweibeinigen.
„Gerne, was kann ich für dich tun?“
„Komm’!“
Chris war merkwürdig grau im Gesicht, soweit es nicht vom fein gestutzten und gepuderten Bart verdeckt wurde. Eine steile Falte auf seiner Stirn versuchte durch das Lächeln zu dringen.
„Komm’!“
Er zeigte hinter sich. Und hinter der Hausecke trat er dem anderen mehrmals kräftig in die breite Kehrseite und dann zwischen die Beine von vorne.
„An dir mache ich meine Hände nicht dreckig. Aber zwinge mich nicht, sie zu gebrauchen. Ich weiß, dass du in den rosaroten Kneipen verkehrst. Ich versichere dir: Meine Erfahrungen in diesen sind größer als deine. Versuche erst gar nichts.“
Der andere rief nur nach seinem Hund, und der leckte Chris die Hände, erst die eine, dann die andere. Der Rest des Abends fand ohne den Hund und seinen Herrn statt. Sie gingen. Die hungrige Frau mit ihrem gemeinsamen Kind folgte ihnen. Und Chris lächelte und ihnen mit seinen hellen, grauen Augen über den Rand seiner Brille nach.
Mitten in die Vorbereitungen zur Reise in die östliche Richtung platzte die Nachricht von dem Verschwinden des Mädchens – des ewig hungrigen Mädchens, das so fürchterlich dünn war. Nach einem Tag seit Beginn des Verschwindens beteiligten sich viele Nachbarn, Bekannte und Einwohner der Stadt an der Suche. Der schon langsam beginnende Winter hatte die letzte Wärme des Herbstes schon verdrängt. Die Angst vor einer möglichen Entführung und Missbrauch ging um. Auffällig oft wurde der eigene Vater befragt, später sogar verhört. Der Verdacht einer pädophilen Neigung bestätigte sich nicht, aber ein deutlicher Mangel an Angst um das Kind und an Mitgefühl für seine Frau war nicht zu übersehen und wurde auch von den ermittelnden Polizeibeamten verständnislos bemerkt. Es war irgendwie kurios: Der Vater fiel auf durch seine befremdende Teilnahmslosigkeit und die Mutter durch wiederholtes groteskes Lachen, welches ihre Angst und Angespanntheit sichtbar machte, für viele unverständlich.
Chris beteiligte sich mit vielen anderen und zuletzt übermüdeten Leuten an dieser entsetzlichen Suche rund um die Stadt, in Gräben, Gebüschen und Wäldern. Er hatte sich von seiner geschäftlichen Arbeit ein paar Tage frei genommen und trug in der Tasche eine Tafel Schokolade bei sich, Schokolade gegen Hunger – nicht seinen, er kannte keinen Hunger – dem des Mädchens, das er zu finden hoffte.
Endlich wurde es gefunden, unversehrt, aber weit von ihrem Zuhause, welchem es zu entfliehen versucht hatte, entfernt. Es war auf der Straße völlig entkräftet und unterkühlt am dritten Tag seiner Flucht zusammengebrochen liegen geblieben und aufgefunden worden.
Chris brachte die Schokolade ins Krankenhaus, streichelte das Mädchen, das ihn mit großen, dunklen Augen ansah und nichts sagte – auch nichts, als der große Mann seine grauen Augen strahlen ließ. Ihr Kopf mit dem kleinen, spitzen Gesicht, umrahmt vom schwarzen Haar, verschwand fast im weißen duftenden Kissen ihres Bettes und fand Schutz darin und Wärme.
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