Das Mädchen kam nicht wieder in die Obhut ihrer Eltern – zuerst in ein Heim, dann zu guten Pflegeeltern – und Cindy war stolz auf ihren Mann. Sie beobachtete ihn, wie er vor dem Spiegel stand, sich betrachtete und zulächelte. Ja, er war schön, ihr großer Junge, schön wie der Hirtenjunge aus der griechischen Mythologie.
„Chris, worauf freust du dich? Auf unsere Reise?“
Cindy freute sich darauf, sie würde ihn behutsam näher an ihre Heimat heranbringen. Seine Antwort verblüffte sie, denn sie stand in keinem Zusammenhang mit ihrer Frage. Er drehte sich nicht weg von seinem eigenen Spiegelbild.
„Das ist kein Kabinettstückchen. Was glaubst du? Wird sie, wenn sie satt wird, auch lachen können? Du bist doch Kinderärztin, Herzi.“
Ihre Freude, die eben noch so schön gewesen war – dahin – im Strom des Nichtverstehens.
„Sie muss Hilfe bekommen, zum Glück ist sie nicht missbraucht worden. Ich glaube, ihr fehlt Liebe.“
Und Cindy dachte bei sich: Mein Gott, öfter glaube ich, sie fehlt mir auch.
Die Kluft zwischen ihrer beider Berufe war groß. Chris hatte einmal sogar von einer geistigen Unebenheit gesprochen. Ihr Intellekt, auf ihren täglichen Umgang und auf ihre Arbeit bezogen, war grundverschieden von dem des anderen. Es schien ihr, dass diese Kluft durch Intelligenz nicht oder nur schwer zu überbrücken war. Heilen und verkaufen, welch ein Gegensatz. Sie lebte lange genug hier, sie konnte mit beiden Kulturkreisen umgehen, den des Westens und dem des Ostens. Bei diesem Mann war sie oftmals überfordert. Das hatte nichts mit ihrem Denken als Frau zu tun, da war sie sich sicher. Sie kannte sich genau, ihren Körper, ihren Geist und hatte großen Einblick in ihre Psyche. Ihre Seele hatte Hunger. Ihr Körper war schön, und ihr Geist war sauber. Sie wusste es genau: Das Überfordertsein war eine eigenartige Form von Hilflosigkeit, die ihr in Bezug auf Männer nicht gänzlich unbekannt war, von der sie aber angenommen und gehofft hatte, dass sie nicht mehr vorhanden sei. Dieser Gedanke machte sie jetzt unsicher – ein Schwebezustand wie auf einer Schaukel, mal hinten, mal vorn, aber ihre Midlife-Krise hatte noch nicht begonnen.
Dann erlebte ihr Chris eine Überforderung; Cindy entdeckte zum ersten Male eine Unsicherheit bei ihm und freute sich darüber. Sie sollte noch später oft darüber lachen.
Es war eins der wenigen Male, das sie zusammen in einem Zug fuhren, erster Klasse, extra für Chris. Die einfache Klasse wäre besser gewesen. So gerieten sie in ihrem Abteil mit ihrer Hündin Nina an eine kleine, weißhaarige und, weil sie schon sehr alt war, äußerst zerknitterte Dame. Alles an ihr war zerknittert: ihr grüner Rock, ihre blaue Jacke, die weiße Bluse darunter, ihre Hände und ihr Gesicht, sogar der kleine Mund mit den schmalen, etwas zu rot geschminkten Lippen. Doch das war nur äußerlich so. Ihr Haar war nicht zerknittert. Es umgab den Kopf wie ein weißer Helm. Eine einzige Strähne versuchte von der Stirne aus in die Höhe zu gelangen wie eine kleine Antenne. Ob es nun diese Antenne war oder das kleine schnuppernde Näschen, auch schon reichlich zerknittert – die Dame witterte einen Arzt und duldete keine Widerrede, als sie ihn in Chris vermutete. Und dann legte sie los. Es gab keinen Grund, ihr Einhalt zu gebieten.
Sie war Krankenschwester gewesen im zweiten Weltkrieg, vom ersten Tag an, gleich hinter der Front, zuerst in Frankreich und dann in Russland. Ihre Augen sprühten, es funkte und blitzte in ihnen – wie an der Front, dachte Chris und lächelte charmant. Die Augen waren jung geblieben, ihr Verstand und ihr Gedächtnis auch. Nach mehreren amputierten Gliedmaßen, versorgten Bauch- und Kopfschüssen, nicht mehr behandelbaren zerfetzten Geschlechtsteilen unter der Leitung von Herrn Sanitätsrat soundso – sie wusste Orte und zum Teil die Daten noch – verlegte sie ohne erkennbare Vorbereitung und ziemlich ordinär ihre Fronterfahrung auf eine Randerscheinung bei der Behandlung der verletzten Soldaten. Sie ließ die Worte an Herrn Doktor Mellin mit wippender Haarantenne hervorsprudeln aus ihrem kleinen zerknitterten Mund und duldete keine abwehrende Geste des ihr gegenüber sitzenden vermeintlichen, zuerst amüsierten, danach fassungslosen Doktors.
„Die meisten hatten Hämorrhoiden, sage ich Ihnen, so groß und noch größer. So!“
Sie machte eine Bewegung mit ihrem faltigen Daumen und ebensolchem Zeigefinger.
„Die schnitten wir gleich mit ab und dachten uns oftmals unser Teil, weil da oftmals noch mehr Großes war. Bis eines Tages der Herr Obersanitätsrat soundso ordinär rief: ‚Schwester nun gucken Sie sich das an: Noch so jung und schon so ein großes und ausgeleiertes Arschloch!’ Das ließen wir so, aber ein Bein amputierten wir.“
Die alte Frontlazarettschwester holte neue Luft in ihre schmale Brust und sprach ihr Gegenüber direkt an. Nina lag vor ihr auf dem Boden und schlief.
„Was hätten Sie gemacht, Herr Doktor? Einmal ausgeleiert – immer ausgeleiert. Der Herr Obersanitätsrat wusste Bescheid. Und Sie wissen es auch, Sie wollen es nur nicht zugeben.“
Ihre Augen sprühten ihn an.
Chris erhob sich, zu einer leichten Verneigung reichte es noch, dann verließ er das Abteil und kam nicht zurück. Die verschlafene Nina zog er an der Leine hinter sich her. Cindy lachte in sich hinein und sah ihre Berufskollegin fast zärtlich an.
„Aber es stimmt doch, er war wirklich noch ganz jung und hatte ein so großes und …“ Sie verstummte, sah sich ihres verständigen Gesprächspartners beraubt und lehnte sich in ihren Sitz zurück. Sie bedeckte sich mit ihrem aufgehängten roten Mantel und verschwand hinter ihn in seinen Schutz. Der Mantel war genau wie ihr weißes Haar mit der kleinen nach oben strebenden Strähne – auch nicht zerknittert.
Als Cindy das Abteil verließ, schien die kleine alte Dame, die so viel erlebt und gesehen hatte, zu schlafen. Und das hatte sie sich auch redlich verdient. In ihren Armen waren mehr junge Männer gestorben als ein Pfarrer in seiner Amtszeit insgesamt zu Grabe trug. Sie hatte jahrelang in jeder Minute ihres Lebens die Finsternis des Elends und der Schmerzen erlebt und doch immer einen Schimmer von Licht gefunden, der sie aufrecht erhalten hatte. So wie eben, oder auch anders.
Und genau in diese Stimmung hinein platzte der Fund, den Cindy machte. Sie fand, als sie sein Gepäck vervollständigte, verschiedene Heilpräparate, Gewürze und einige Stimulanzien, die sie als Ärztin entsetzt und schlichtweg als Drogen einordnete. Ihre Kenntnis hierüber war umfangreich und ihr viele Male bei ihrer Arbeit von Nutzen gewesen.
„Sind das die Illusionen, die du verkaufst? Wenn das bekannt wird, gibt es einen Skandal. Und ich bin Ärztin, die Menschen helfen soll.“
Ihr schönes Gesicht war grau. Chris blieb ganz ruhig. Er sah sie über seine Brille an.
„Diese Situation spricht gegen mich, aber wir sollten von der Wahrheit doch genug übrig lassen. Ich verkaufe nichts davon und benutze es selbst schon lange nicht mehr. Das tun nur Leute, die sich für besonders intelligent halten, oder sie trinken, ich meine: saufen. Ich bin intelligent.“
Er lächelte.
„Hörst du, Cindy. Ich – bin – intelligent!“
Sie spülte alles durch die Toilette, es wollte nicht gleich weg, sie musste mehrmals spülen. Später, als er mit Nina vom abendlichen Spaziergang zurückkehrte und auch ins Bett ging, sagte er zu der noch nicht schlafenden Cindy zwei Sätze, mit denen sie nichts anfangen konnte und nur halbwegs zur Kenntnis nahm.
„Du kennst nicht die Angst und Schmerzen vieler Deutschen, die entsteht, wenn der Winter sein Kommen ankündigt.“
Das war der eine Satz. Der andere Lautete:
„Kannst du nicht auch verkaufen?“
Am nächsten Tag flogen sie nach Thailand, dem hinterindischen Königreich.
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