„Ja, er ist der Star des Schwimmteams. Bildet sich ein, dass er nach dem Schulabschluss in der Nationalmannschaft schwimmen kann.“
„Ambitioniert und wirklich gutaussehend“, fügte ich hinzu, um sie ein bisschen zu ärgern.
Bevor sich Stephanie dazu äußern konnte, schaltete sich Barbara ein, die bislang gelangweilt neben der Vitrine auf uns wartete. „Das sind sie doch alle, die hier verewigt wurden. Später werden sie einen Bierbauch haben und nur noch genug Geld verdienen wollen, um ihre Familien zu ernähren“, sagte sie sarkastisch und winkte uns hinaus zum Parkplatz.
Als der große Morgen gekommen war, konnte ich kaum erwarten, dass der Spuk des Schulanfangs endlich vorbei war. Stephanie vergaß wohl, dass sie mich mit ihrer lauten Musik nicht mehr nerven wollte. Heute war es mir aber egal. Weil ich so aufgeregt war, konnte ich mich sowieso nicht nochmal in Ruhe umdrehen, obwohl ich genügend Zeit gehabt hätte. Nachdem ich mich in meine Sommeruniform geschmissen hatte und den Kaffee heruntergestürzt hatte, rollten wir mit den Rädern und den Rucksäcken von der leichten Anhöhe unseres Viertels hinunter in die Stadt. Der kühle Fahrtwind tat mir gut und der Kaffee fing an zu wirken. Die Gangschaltung hatte ich langsam auch verstanden und bekam ein natürliches Hoch, das sicherlich auch etwas mit unserer Geschwindigkeit zu tun hatte. Stephanie redete nicht nur schnell, sondern radelte auch entsprechend. Als wir die Innenstadt passiert hatten und in das Labyrinth des dahinter liegenden Wohnviertels eintauchten, sah ich einige Meter vor mir ein Mädchen am Straßenrand neben ihrem kaputten Fahrrad knien. Sie versuchte wohl es zu reparieren. Stephanie fuhr an ihr vorbei, ohne zu grüßen oder zu fragen, ob alles in Ordnung war. So unhöflich war sie doch sonst nicht. Ich hielt neben dem Mädchen an und schrie Stephanie hinterher, dass sie warten solle. Sie hörte mich nicht und fuhr weiter.
„Hallo. Kann ich Dir helfen?“, fragte ich das hellblonde Mädchen, das sich zu mir drehte und mich mit ihren außergewöhnlich großen Augen erstaunt anschaute.
„Ach, die Kette ist abgefallen und ich schaffe es nicht, sie alleine wieder auf das Zahnrad zu legen. Wäre super, wenn Du mir helfen könntest“.
„Klar doch.“
Ich parkte mein Rad hinter ihrem, ging neben ihr in die Hocke und nahm das Taschentuch entgegen, das sie mir anbot, um meine Hände beim Anfassen der schmierigen Kette nicht schmutzig zu machen. Zu zweit schafften wir es schnell, die Kette wieder anzulegen.
„Danke. Ohne Dich hätte ich schieben müssen. Ich heiße übrigens Christina“, sagte sie lächelnd.
„Ich bin Sophie.“
„Gehst Du auch auf die Blenheim High School?“
„Ja, heute ist mein erster Tag. Ich komme aus Deutschland.“
„Ich dachte mir schon, dass Du neu sein musst. Ich gehe in die zwölfte Klasse.“
„Ich auch. Dann haben wir bestimmt ein paar Kurse gemeinsam.“
„Bestimmt. Komm, ich zeig dir den Weg zur Schule.“
Wir fuhren los. Ich folgte Christina. Nach ein, zwei Minuten sah ich Stephanie uns entgegenfahren. Sie hatte wohl gedreht, als sie merkte, dass ich nicht mehr hinter ihr war. Kurz vor uns machte sie einen Bogen und fuhr nun neben mir.
„Hey, hast du angehalten oder war ich zu schnell?“, fragte sie besorgt auf Deutsch.
„Ich habe Christina geholfen, das Fahrrad zu reparieren“, antwortete ich auf Deutsch und schaute sie an, um ihre Reaktion zu erhaschen. Sie blickte versteinert auf den Weg. Ich ahnte, dass sie meine Antwort ungern hörte.
„Kennt Ihr Euch?“
„Nicht wirklich. Aber sie ist in der Gang. Insofern kann das ruhig dabei bleiben.“
„Das wusste ich nicht.“
„Woher sollst Du das auch wissen? Du hast aber wirklich ein Händchen dafür, diese Leute kennenzulernen.“
„Scheint so“, sagte ich amüsiert, da sie wirklich Recht hatte mit dieser Beobachtung. Bislang waren die Leute aber ganz nett. Ich schaute Christina an und ich konnte mir bei ihrem engelhaften, zerbrechlichen Anblick einfach nichts Böses vorstellen. Wir erreichten endlich die Schule und bogen auf den Parkplatz gegenüber ein. „Beeil Dich, ich will nicht, dass man uns zusammen mit ihr sieht“, flüsterte Stephanie mir zu und fuhr schnell an Christina vorbei zu einer Ecke des Platzes, an der die Fahrradständer angebracht waren. Ich folgte ihr, um sie nicht zu enttäuschen, fand die ganze Aktion aber ziemlich lächerlich. Christina ließ es ruhig angehen, sicher hatte sie Stephanies Plan durchschaut. Sie hielt einen höflichen Sicherheitsabstand, als sie ihr Fahrrad am Ständer festmachte. Stephanie schaffte es in Windeseile, unsere beiden Räder abzuschließen, bevor Christina mit ihrem Rad fertig wurde. Sie hakte sich dann bei mir ein und zog mich Richtung Schule. Ich konnte nur noch meinen Kopf drehen und mich von Christina mit einem kurzen „Bye“ verabschieden. Christina grüßte zurück und lächelte dabei höflich. Aber ich konnte in ihren Augen einen Anflug an Traurigkeit erkennen. Oder bildete ich mir das nur ein?
Im Park vor der Schule tummelten sich bereits viele Schüler, die in Gruppen beisammen standen oder auf dem Rasen saßen. Mein Puls raste plötzlich in die Höhe und ich bildete mir ein, dass mich jeder musterte, an dem ich vorbeiging. Stephanie steuerte zielgerichtet auf eine Gruppe zu, die es sich auf dem Rasen beim Brunnen gemütlich gemacht hat. Ich erkannte Jessica und Paula, die wieder mal perfekt gestylt waren. Mit viel Fantasie konnte man wirklich etwas aus der hässlichen Uniform machen. Bei ihnen saßen zwei Jungs, Gary und Hugh, die, wie es sich herausstellte, im Fußballteam der Schule spielten. Stephanie und die beiden Mädels schienen sich für Fußball zu interessieren und natürlich für die Jungs im Team, die sie offen anhimmelten. Als Gary und Hugh hörten, dass ich aus Deutschland kam, fingen sie an über deutschen Fußball zu philosophieren, wie zum Beispiel die strukturierte Spielweise der Deutschen, von denen sich alle anderen Nationalteams eine Scheibe abschneiden könnten. Oder über die Leidenschaft, die das Team seit Jürgen Klinsmanns Trainerschaft an den Tag legt und damit die Fanherzen weltweit für sich gewinnt. Dann stellten sie mir Fragen zu deutschen Mannschaften und Spielern, die ich nur mit Ach und Krach beantworten konnte. Ich wollte es mir nicht gleich am ersten Tag mit meinen Mitschülern verderben und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass mein Interesse an Fußball gegen Null ging. Zum Glück wechselte Stephanie das Thema, bevor ich entlarvt wurde. Ab dann verstand ich nur noch Bahnhof, da sie sich über Leute unterhielten, die ich nicht kannte. Die Glocke erlöste mich und wir gingen in das Gebäude.
Stephanie und ich hatten in der ersten Stunde zusammen Mathe. Wir gingen in den Raum, wo mich Stephanie der Lehrerin vorstellte. Ab jetzt begann die unheimlich peinliche Vorstellungsrunde durch die Lehrer, die ich in jedem Kurs über mich ergehen lassen musste. Die Schüler taten meistens ein wenig interessiert, aber waren dabei höflich zurückhaltend. Das machte es mir einfacher. Der Einstieg in Mathe war ziemlich leicht. Es war noch nichts Neues für mich dabei. Vielleicht würde sich das ja im Laufe des Jahres noch ändern. Da Stephanie auch gut in Mathe war, würde sie mir helfen können, wenn ich etwas doch nicht verstehen sollte. Im Englischkurs war es ähnlich. Jessica und Paula belegten den gleichen Kurs wie ich. Auf dem Programm stand englische Literatur. Angefangen von Beowulf über Shakespeare bis Oscar Wilde war alles dabei, was die englischsprachige Literatur zu bieten hatte. Wir fingen gleich mit der trockenen Theorie an und bekamen die Hausaufgabe, im Textbuch einen Aufsatz dazu zu lesen. Erst morgen würden wir mit dem ersten richtigen Text anfangen. Das hörte sich alles gut an, irgendwie war ich euphorisch. Alle diese Texte im Original lesen zu können. Mit Jessica und Paula an meiner Seite fühlte ich mich nicht so allein. In Geschichte sah das schon etwas anders aus. Keiner, den ich kannte, war im gleichen Kurs und so wie ich den Lehrer verstand, stand englische und Kolonialgeschichte auf dem Lehrplan. Viele Begrifflichkeiten, geschichtliche Ereignisse und Personen, die er erwähnte, kannte ich gar nicht. Das konnte noch heiter werden. Nachdem mich der Lehrer kurz vorgestellt hatte und gleich die Gelegenheit nutzte, den Schülern eine kleine Lektion über Deutschland zu erteilen, das für viele am anderen Ende der Welt war und das sie lediglich als Gegner im zweiten Weltkrieg und als Fußballnation kannten, setzte ich mich in der letzten Reihe neben dem Fester in die freie Bank, hinter dem einzigen Gesicht, das ich kannte. Christina schien etwas verblüfft, dass ich nach Stephanies Aktion von heute Morgen, die Nähe zu ihr suchte. Es gab immerhin ein paar alternative Sitzgelegenheiten, die ich aber ignorierte, um sie kennenzulernen. Sie drehte sich kein einziges Mal zu mir um und wahrte den Sicherheitsabstand, auf den Stephanie zuvor bestanden hatte. Erst als Mr. Harris die Bücher austeilte, kam mir der Zufall zur Hilfe. Er hatte ein Buch zu wenig dabei. Da ich die letzte in der Reihe war, ging ich leer aus und er bat Christina darum, mich während des Unterrichts in ihr Buch schauen zu lassen. Nach der Stunde würde ich von ihm im Lehrerzimmer ein eigenes Buch erhalten. Christina und ich nickten zustimmend und sie drehte sich zu mir um, als Mr. Harris uns den Aufbau des Buches und die Lerninhalte in der Übersicht erläuterte. Christina hatte eine warme und beruhigende Ausstrahlung. Ein sanfter lieblicher Duft ging von ihr aus, der mir sehr gefiel. Obwohl sie sich auf das, was Mr. Harris sagte konzentrierte, blickte sie ab und zu auf und schaute mich an. Sie lächelte freundlich, wenn ich ihren Blick erwiderte. Irgendwie fühlte ich mich ihr sehr nah. Es war, als ob unsere Freundschaft vorprogrammiert war. Nachdem die Glocke klingelte, bedankte ich mich bei ihr. Sie bot mir ihr Buch an und sagte, sie würde mit Mr. Harris zum Lehrerzimmer gehen, um das andere zu besorgen. Dann müsste ich nicht durch das Schulhaus irren auf der Suche nach dem nächsten Raum. Ich nahm ihr Angebot dankbar an und sah sie den ganzen Tag nicht mehr.
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