„Natürlich.“
„Wir gehen jetzt beide zurück in meine Wohnung. Mir ist furchtbar kalt. Und wenn wir uns aufgewärmt haben, finden wir raus, wohin Sie gehören.“
Henrietta überlegt einen Augenblick. „Von mir aus.“
Das war ja wieder einfach, denkt Lena und atmet erleichtert durch. Die beiden treten den Rückweg an. Emma unterhält sich gerade mit zwei Bauarbeitern, als Lena und Henrietta an ihrem Kiosk vorbeilaufen „Bis bald“, ruft Emma nur und hebt winkend die Hand.
Henrietta sitzt wieder in Decken eingewickelt auf Lenas Sofa. Ihre Gastgeberin befindet sich in der Küche, um den inzwischen kalt gewordenen Tee durch frischen zu ersetzen. Die alte Frau sieht sich in dem Zimmer um. Ein Chaos herrscht hier. Auf diesem Sofa kann man sich kaum rühren. Viel zu viele Kissen in den verschiedensten Farben liegen kreuz und quer auf den Sitzflächen und Lehnen herum. Ein riesiger Fernseher steht an der Wand gegenüber. Nicht gut für die Augen, denkt Henrietta. Neben diesem Ungetüm von Fernseher steht eine Kommode. Sieht ziemlich alt aus. Dieses Teil passt irgendwie überhaupt nicht zu den anderen Dingen im Zimmer. Henrietta findet, dass Lena keine Ahnung von Harmonie hat. Hoffentlich muss sie nicht zu lange hierbleiben. Im Augenblick weiß sie jedoch nicht, wohin sie soll und auch nicht, warum. Sie kann sich nicht erinnern, wie sie auf die Straße gekommen war, auf der Lena sie angesprochen hatte. Sie weiß auch nicht, warum sie keine Jacke trägt. Henrietta weiß nur, dass sie irgendwohin muss. Dass es Zeit ist. Zeit wofür?
Henrietta sieht die Grünpflanzen. Eine Wand des Zimmers ist komplett Fenster. Eine schmale Tür führt auf einen Balkon. Vor der ganzen Fensterwand befinden sich Pflanzen. Große Kübel, die direkt auf dem Boden stehen. Kleinere hat Lena auf Tischchen und Hocker gestellt. Die Frau mag Blumen und Pflanzen, denkt Henrietta und beschließt, dass diese Tatsache ausreicht, um ihr zu vertrauen. Henrietta selbst liebt das Gärtnern. Warum erinnert sie sich daran, aber nicht an ihren vollständigen Namen und woher sie kommt? Was ist los mit ihr?
Lena kommt erneut mit einem Tablett ins Wohnzimmer, stellt erleichtert fest, dass sich Henrietta immer noch auf ihrem Sofa befindet und macht es sich auf einem Sessel im Schneidersitz bequem, die Tasse mit dem heißen Tee in ihren eiskalten Händen.
„So sitzt eine Dame nicht“, sagt Henrietta plötzlich.
Lena lächelt. Sie hat während des Teekochens beschlossen, sich auf Henrietta einzulassen. „Ich bin ja auch keine Dame.“
„Was bist du dann? Ein Straßenmädchen?“
„Ein Straßenmädchen mit einer eigenen Wohnung?“ Lena lacht. „Ich bin eine ganz normale Frau.“
„Wie alt bist du?“
„Vierzig.“
„Dann solltest du dich wie eine Vierzigjährige benehmen.“
„Ich bin zu Hause, Henrietta. Da kann ich doch sitzen, wie ich will. Hier sieht mich doch niemand.“
„Bin ich etwa Niemand? Das gehört sich einfach nicht.“
„Ich werde es nicht in der Öffentlichkeit tun. Versprochen.“
Lena checkt noch einmal ihr Handy. Immer noch keine Verbindung. Merkwürdig. Jetzt bereut sie, ihr Festnetz gekündigt zu haben.
„Ist Ihnen eigentlich eingefallen, wie Sie mit Nachnamen heißen?“, fragt Lena.
„Nein.“
„Ist Ihnen eingefallen, wo Sie zuletzt gewohnt haben?“
„Nein.“
„Wer die anderen sind? Die Sie haben gehen lassen?“
„Nein.“ Henrietta klingt fast etwas genervt. Doch ihre Auffassung von Höflichkeit verbietet ihr das. „Das waren ständig andere. Ich konnte mir die Namen nie merken“, sagt sie.
Sie lebt in einem Heim, denkt Lena. Pfleger wechseln häufig die Schichten. Henrietta scheint also doch Alzheimer zu haben oder so was in der Art. Lena ist ratlos. Das einzige, was ihr immer wieder einfällt, war, die Polizei zu verständigen. Dazu müsste sie allerdings wieder raus in die Kälte. Ihr Handy funktioniert nämlich immer noch nicht. Sie ist aber schon durchgefroren und verschiebt dieses Vorhaben deshalb.
Lena bemerkt, dass Henrietta noch nichts von ihrem Tee getrunken hat. Sie wundert sich, dass die alte Frau kein Bedürfnis hat, sich von innen aufzuwärmen. „Trinken Sie etwas, Henrietta. Das tut gut.“
„Ich habe keinen Durst.“
„Sie müssen etwas trinken. Sie sind doch ganz durchgefroren.“
„Mir ist nicht kalt.“
Herrje, denkt Lena. Was fange ich nur mit dieser Frau an?
„Erzählen Sie mir, woran Sie sich erinnern. Irgendwas. Einfach so. Bitte.“
Henrietta sieht Lena an. „Es ist zwar sehr unhöflich, fremde Leute auszufragen, aber wir haben wohl gerade nichts Besseres zu tun.“
„Richtig.“
„Ich bin Henrietta. Wurde neunzehnhundertfünfzehn geboren…“
„Neunzehnhundertfünfzehn?“ Lena rechnet. „Sie sind achtundneunzig Jahre alt?“
„Ja. Weißt du nicht, dass es unhöflich ist, jemanden zu unterbrechen?“
„Doch. Natürlich. Verzeihung.“
„Meine Eltern, mein Bruder und mein Ehemann sind im Krieg gestorben.“
„Wie alt waren Sie da?“
Mit einem Blick, der Lena tadelt, antwortet Henrietta: „Achtundzwanzig.“
„Hatten Sie Kinder?“, fragt Lena, der es herzlich egal ist, ob sie unhöflich erscheint oder nicht.
„Einen Jungen. Paul.“
„Wo ist der jetzt?“
„Das weiß ich nicht. Wir wurden getrennt, als diese Bombe fiel. Meine Mutter, Paul und ich waren im Haus. Auf einmal hörten wir dieses Geräusch. Es kam immer näher. Wurde immer lauter. Ich nahm Paul an die Hand und rief meiner Mutter zu: ‚Wir müssen hier raus‘. Paul und ich rannten so schnell wir konnten. Ich glaubte, Mutter wäre hinter uns. Als ich mich umsah, sah ich, wie meine Mutter die Haustür abschließen wollte. Und dann gab es einen lauten Knall und überall waren Flammen.“ Henrietta hält inne. Dann sieht sie Lena an: „Kannst du dir das vorstellen? Die Haustür abschließen! Ich sah noch dieses Feuer, hörte Paul schreien und dann war alles dunkel.“
„Oh, mein Gott!“
„Nimm den Namen des Herrn nicht in den Mund, außer wenn du ihm dankst.“
Auch das noch, denkt Lena, die alles ist, nur nicht religiös. „Was war dann?“
„Ich wurde in einem Lazarett wach. Ich rief nach Paul, meinem Jungen. Aber er war nicht da.“
„Wie alt war Ihr Sohn damals?“
„Sechs Jahre.“
„Wo war er?“
„Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nie wiedergesehen.“
„Nie wieder?“ Lena reißt vor Schreck die Augen weit auf. „Bis heute nicht?“
Henrietta schüttelt traurig den Kopf.
Lena ist auf einmal traurig. Sie muss ein paar Tränen wegblinzeln, und sie empfindet tiefes Mitgefühl für diese alte Frau.
„Haben Sie ihn gesucht? Später, meine ich?“
„Natürlich hab ich das. Was dachtest du denn? Er war doch alles, was ich noch hatte. Vater, mein Bruder Tobias und mein Ehemann Richard waren alle schon tot. Mutter und ich hatten erst zwei Wochen vor diesem schrecklichen Tag die Nachricht bekommen, dass Tobias und Richard umgekommen waren.“
„Oh, mein…e Güte!“ Jetzt rollt tatsächlich eine Tränen über Lenas Wange. Wenn sie sich vorstellt, innerhalb von zwei Wochen ihre Familie zu verlieren… Das ist zu schrecklich.
„Haben Sie je erfahren, was mit Paul passiert ist?“
„Nein. Er war wie vom Erdboden verschwunden. Als hätte er nie existiert.“
„Was haben Sie dann gemacht?“
„Der Krieg war irgendwann zu Ende. Ich wurde Schwesternhelferin. Hatte gehofft, dass mein Paul irgendwann mein Patient sein würde. Dass er vielleicht nur verletzt war. Aber nichts. Paul kam nicht. Ich fand ihn nicht. Alle erdenklichen Such-Organisationen habe ich eingeschaltet. Niemand hatte einen kleinen Jungen gefunden oder gesehen. Ich hab mich nie dazu entschließen können, ihn für tot zu erklären. Ich bin mir sicher, mein Paul lebt irgendwo.“ Hilflos sieht Henrietta Lena an. „Und jetzt ist es für mich zu spät. Jetzt muss ich gehen und werde meinen Jungen nie wieder sehen.“
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