Es gab ja auch prominente Atheisten, große Aufklärer innerhalb des sogenannten christlichen Abendlandes, die sehr entschieden, sehr logisch-rational das Dasein eines Gottes widerlegten, aber an eine Fortsetzung ihrer eigenen Existenz nach ihrem leiblichen Tod glaubten bzw. eine solche Existenz für möglich hielten. Meist gingen sie von dem Grundgedanken aus, dass all unsere Begabungen, Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten, unsere schöpferischen Potenzen im Laufe eines menschlichen Einzellebens unmöglich verwirklicht oder gar voll ausgeschöpft werden können. Aus derartigen Erwägungen heraus haben so unterschiedliche Denker und Charaktere wie die großen Aufklärer Voltaire, Lessing und David Hume, aber auch Goethe, Kant und Schopenhauer ein Fortleben des menschlichen Geistes nach dem Tod als sinnvoll bezeichnet und gefordert (postuliert). Viele Denker, die an keinen persönlichen Gott glaubten, verknüpften ihre Überzeugung von einem Weiterleben mit dem Reinkarnationsgedanken, also der Lehre von der Wiederverkörperung bzw. Seelenwanderung, unter anderem Plato, Pythagoras, Seneca, Paracelsus, Giordano Bruno, Jakob Böhme, Lessing, Voltaire, Herder, Schelling, Hegel, Novalis, Schlegel, Jean Paul, Carus, Brentano, Gustav Theodor Fechner, Leibniz, Goethe, Schiller, Kant, Schopenhauer, Nietzsche, Rudolf Steiner, C. G. Jung. Auch große Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts wie Tolstoi, Victor Hugo, Ibsen, Strindberg, Balzac, Flaubert, Rabin Dranat Tagore, Peter Rosegger, Gottfried Keller, Rilke und viele andere bekannten sich zur Idee der Reinkarnation. Der entschiedene Anhänger der reinen Vernunft, der radikale Kritiker kirchlichen Dogmenglaubens, der Aufklärer Voltaire sieht in der Reinkarnation nichts Unvernünftiges, Widersinniges, Widersprüchliches: „Die Lehre von der Wiederverkörperung ist weder widersinnig noch nichtssagend … Zweimal geboren zu werden ist nicht wunderbarer als einmal.“ 1Nach Schopenhauer ist die Idee der Wiederverkörperung, „der Mythos von der Seelenwanderung so sehr der gehaltreichste, bedeutendste, der philosophischen Wahrheit am nächsten stehende, dass ich ihn für das Non plus Ultra der mythischen Darstellung halte“ 2(also für das, was in dieser Hinsicht nicht mehr überboten werden kann).
Drittes Kapitel
Unsterblichkeit und Atheismus
Einer der bedeutendsten Atheisten des 20. Jahrhunderts, der Neo-Marxist Ernst Bloch, sieht ebenfalls zwischen Atheismus und Unsterblichkeit keinen Widerspruch. Jedenfalls gehört seiner Überzeugung nach zu einem vollentfalteten, alle Perspektiven einbeziehenden Atheismus auch die Inanspruchnahme der Möglichkeit des Fortlebens über den irdischen Tod hinaus: „Es gibt ein Gefühl, das im Menschen lebt: ich kann nicht vergehen. Ich bin wie die Hand, die einen Handschuh regiert. So stecke ich in meinem Leib. Ich verliere einen Finger, ich verliere mein linkes Bein, mein rechtes Bein, und ich bin ungestört immer noch derselbe. Wieso soll ich nicht auch das noch überstehen, dass das Herz nicht mehr schlägt? Äußerlich bin ich dann eine Leiche. Ist aber das, was die stärksten Verletzungen meines Körpers, vielleicht sogar ohne irgendeinen psychischen Effekt, überwindet und die stärksten Schicksalsschläge überwindet, ist das nicht etwas so Starkes und Merkwürdiges und Transzendierendes – nicht Transzendenten, es überschreitet ja selbst Grenzen –, dass man sagen kann: dies Licht müsste zu brennen beginnen, dies Licht müsste angezündet werden, das unreflektiert in jedem Menschen oder doch in den allermeisten Menschen zu brennen bereit steht.“ 3
Es ist also hochinteressant und klingt zunächst auch paradox: Der Atheist und Materialist Bloch, der jeden Gott- und Geist-Überbau negiert, schließt die Möglichkeit des Fortlebens, der Unsterblichkeit des menschlichen Seelenkerns keineswegs aus, obwohl dies doch bisher praktisch alle Varianten des Atheismus und Materialismus seit der Antike durchgehend getan haben. Bloch will durchaus konsequenter Materialist sein, bekennt sich zur höchsten Entwicklungsstufe des Materialismus, dem dialektischen, obwohl er den Materiebegriff viel weiter fasst als alle orthodoxen Anhänger des »Dialektischen Materialismus« im Rahmen des Leninismus-Stalinismus und obwohl diesen sein Diktum, man könne beim Idealisten erfahren, was Materie ist, geradezu wie eine Blasphemie erscheinen muss. 4
Es ist nach Bloch noch gar nicht heraus, was der Mensch eigentlich ist, sein soll, sein wird. Daher kann auch Unsterblichkeit sein Attribut sein oder werden.
„Wichtig, dass gar nicht gesagt werden kann, was der Mensch ist, weil er eben am stärksten drängend von allem, was es gibt, sich nicht hat, sondern wird … indem gerade sein Anfang noch nicht heraus ist, deshalb auch nicht dasjenige, worauf er zielt.“ Das in uns „Steckende keimt oder möchte keimen, wenn es könnte und die Umstände bereits danach wären … Hier also ist etwas derart unabgeschlossen, dass wir nicht einmal wissen, ob wir Menschen sind“, jedoch wissen können, dass das Humane einen „noch ungelungenen, unvereitelten Versuch“ darstellt. 5
In der Perspektive einer „letztmöglichen Selbstbegegnung“, bei der existentiellen Konfrontation mit „der absoluten Frage“, in der Auseinandersetzung mit dem „Wirproblem“ werden wir auf den „ internen Weg“ gebracht. Dann spüren wir: „In uns … brennt noch dieses Feuer, der letzte Traum … in uns … leuchtet noch das absolute Licht … und der phantastische Zug zu ihm beginnt, zur externen Deutung des Wachtraums, zur kosmischen Handhabung des utopisch prinzipiellen Begriffs. Diesen zu finden, das Rechte zu finden, um dessentwillen es sich ziemt zu leben … dazu … bauen wir neu die metaphysisch konstitutiven Wege, rufen, was nicht ist, bauen ins Blaue hinein, wie die Welt es überall am Rand hat, bauen uns ins Blaue hinein und suchen dort das Wahre, Wirkliche, wo das bloß Tatsächliche verschwindet – incipit vita nova.“ 6
Bloch führt einige Gründe an, die für die Unsterblichkeit des menschlichen Wesens sprechen. „Wir fühlen uns sowieso schon innerhalb unseres Leibes nur wohnen“, sagt er z.B., und „daher können ein Fuß, ein Arm wegfallen, ohne dass unser Ich auch nur das Mindeste an sich dabei verlöre.“ Auch unsere Sprache weist nach Bloch ironisch-verräterisch auf unser nicht umzubringendes Unsterblichkeitsbewusstsein hin: „So eben konnte ein Sterbender seltsam genug von sich sagen, wie dieses Leben freilich nichts gewesen sei, wie sehr er aber nun zu lachen habe, wenn es das andere gar nicht gäbe. Und ein französischer Edelmann erzählte von sich ebenso unbedacht und widersinnig tief: >Ich weiß mir zu genügen, doch ich werde auch ohne mich auszukommen verstehen<.“ 7
Auch der Lebenswille eines Menschen, seine Schaffenskraft kann auf die Unsterblichkeit bestätigend hinweisen, bei manchen Selbstmördern z. B.: „auf den Tod als Entbindung, der Kraft sicher, ihn zu besiegen und hinter ihm gerade das Dauernde an sich selbst, das Ruhende zu erlangen.“ 8„Der Tod ist dann also wie ein Flügelschlag, das Ei springt, und das Küken ~ schon ein großer flatternder Vogel – bricht aus dem zusammenbrechenden Ei, dem Corpus, aus und geht hoch, auch ein Goethisches Gefühl, mit dem Satz berührt, die Natur sei verpflichtet, mir eine Wirkungsstätte, eine höhere, eine breitere, eine freiere Wirkungsstätte anzuweisen.“ Man kann nach Bloch in dieser Hinsicht unser jetziges Leben als „Stufenkrankheit“ bezeichnen: „die engere Stufe, die niedere Stufe wird überwunden, eine neue gibt's und es hängt jetzt … alles an der Schaffenskraft in uns, die … sich … bewähren kann in einem Werk, einem politischen, einem religiösen, einem moralischen, einem philosophischen, einem wissenschaftlichen usw. die Schaffenskraft selbst sucht schließlich eine andere Wirkungsstätte und hat das Gefühl: in dem Tod zeigt sich ein Ausweg merkwürdiger Art. Die Selbstmörder, sagt Bloch (ich würde sagen: manche von ihnen) „haben auch den Verdacht, das Gefühl, der Tod sei keine Flucht und wir schlagen uns seitwärts in die Büsche, wir desertieren, nein, sondern: da bin ich noch mehr, da geht's mir besser, da bin ich echter, identischer als in diesem Scheißleben, das mich an allem hindert und Frustration schafft. Im Tod hört die Frustration auf.“ 9
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