Emma Heldenreich hatte notariell verfügt, dass die Hälfte ihres Gesamtvermögens an ihren Lebensretter Friedrich Rupp, auf dem Schiff nur „Raupe“ genannt, zur Gründung eines „Tante-Emma-Ladens“, ging. Der Betrieb eines solchen Ladens, wie ihn Emma mit ihren Schwestern jahrzehntelang betrieben hatte, war eine ausdrückliche Bedingung des Testaments. Die andere Hälfte sollte einer noch zu gründenden Stiftung, die sich um in Not geratene Mannschaftsmitglieder des Seniorenschiffes kümmerte, zufließen.
Nun stand Rasputin vor der nicht gerade einfachen Pflicht, den Letzten Willen Emmas zu erfüllen.
Etwas Sorge bereitete ihm, dass die Tatumstände des missglückten Mordanschlags an Emma zwar aufgeklärt waren, doch der Täter weigerte sich nach wie vor, seinen Auftragsgeber zu nennen. Wer steckte dahinter, und welche Gefahr ging weiterhin von ihm aus?
Rasputin nahm seine Pflichten als Testamentsvollstrecker sehr ernst. Da er aber auch nicht auf die Tätigkeit als Schiffsarzt verzichten wollte, richtete er für die Stiftung ein Büro auf der „Welt & Mehr“ ein. Das war auch im Sinne der Reederei, deren Mannschaft ja davon profitieren sollte. Die Stiftung wurde „Emma Heldenreich Stiftung“ genannt und von dem dreiköpfigen Vorstand Rasputin als Vorsitzenden und den Beisitzern Reeder Hansen und Kapitän Harmsen geführt.
Allein konnte der Arzt aber die Mehrfachbelastungen nicht tragen und suchte nach einem geeigneten Geschäftsführer.
Hartmut Kömmel, inzwischen stellv. Direktor der Nordelbischen Lotteriegesellschaft, ärgerte sich immer noch darüber, dass er bezüglich der Rentenzahlungen von Emma Heldenreich ausgetrickst worden war. Er vermutete weiterhin, dass er einem großen Betrug aufgesessen war, was ja zweifellos stimmte, doch es war ihm nicht möglich, das zu beweisen. Jetzt, wo Emma nicht mehr lebte, brauchte die „Nordelbische“ auch nicht weiterzuzahlen, aber Kömmel hoffte, eines Tages beweisen zu können, dass die Renten zu Unrecht gezahlt worden waren. Da Emma tot war, konnte er natürlich die Zahlungen nicht zurückfordern, doch vielleicht das angesammelte Vermögen beanspruchen. Das wäre eine Katastrophe für die Stiftung und ganz besonders für Raupe und seine Frau Rieke. Der Traum vom eigenen Tante-Emma-Laden wäre damit geplatzt.
Nun las Kömmel die Ausschreibung der Stiftung für einen Geschäftsführer. Wenn es ihm gelänge, den Posten zu bekommen, hätte er vollen Einblick in alle Unterlagen und könnte sicherlich auch beliebig an Rasputin vorbei manipulieren.
Seniorenschiff „Welt & Mehr“
Er hatte sich auf die Ausschreibung bei der EHS beworben und von Rasputin einen Vorstellungstermin erhalten. Das klappte erst, als das Schiff gerade wieder in Bremen war.
Drei Bewerber gab es bisher, doch die ersten beiden hatten auf Rasputin keinen sehr zuverlässigen Eindruck gemacht. Pünktlich um 10.00 Uhr betrat Kömmel über die Gangway die „Welt & Mehr“ und fragte bei der Rezeption nach Dr. Rasputin. Die freundliche Rezeptionistin bat ihn, in der Lounge Platz zu nehmen. Kurz darauf erschien Dr. Rasputin persönlich und stellte sich vor. Er wolle den Weg zu seinem Büro ausnutzen, ihm einen kleinen Überblick über das Schiff zu geben. Unterwegs sah der Arzt ihn mehrmals prüfend von der Seite an. „Sie kommen mir bekannt vor. Haben wir uns schon mal kennengelernt?“, fragte er schließlich.
Kömmel zögerte. Sollte er sich gleich als Vertreter der Lotteriegesellschaft zu erkennen zu geben? Warum nicht? Spätestens beim Vorstellungsgespräch würde er ohnehin damit herausrücken müssen. „Wir haben uns bereits bei der Nordelbischen Lotteriegesellschaft kennengelernt, als Frau Emma Heldenreich ihr Los verlegt hatte. Das ist aber schon 25 Jahre her.“
Rasputin erinnerte sich, doch er kannte natürlich die Beweggründe nicht, die damals zu dem Versuch geführt hatten, Emma ihren Gewinn vorzuenthalten. Der Schuss war ja leider auch nach hinten losgegangen, dachte Kömmel. Nich zuletzt deshalb war er jetzt hier, aber davon durfte Rasputin nichts merken. Dieser schwieg nachdenklich und versuchte, sich die damaligen Ereignisse in Erinnerung zu bringen. Aber eigentlich war alles für Emma gut ausgegangen. Es gab also keinen Grund, Kömmel gegenüber misstrauisch zu sein.
Die Geschäftsstelle der Stiftung an Bord des Schiffes bestand aus zwei nebeneinanderliegenden Büros: eines für den Vorsitzenden Dr. Rasputin, das andere für den zukünftigen Geschäftsführer.
„Das würde Ihr Büro werden“, stellte Rasputin es vor, „vorausgesetzt, wir können uns einigen. Was haben Sie denn für Vorstellungen?“
Ein Steward brachte eine Kanne Kaffee, zwei Gedecke und etwas Gebäck und zog sich dezent wieder zurück. „Das gehört zu den Annehmlichkeiten hier an Bord“, bemerkte Rasputin, „ich genieße es durchaus.“
„Was haben Sie denn für diesen Posten vorgesehen?“, fragte Kömmel zurück. Erst mal hören.
„Nun“, überlegte der Arzt, „das ist eine Stiftung für gemeinnützige Zwecke. Wir müssen die Kosten natürlich niedrig halten. Ich habe sogar an eine ehrenamtliche Tätigkeit gedacht – natürlich mit einer angemessenen Aufwandsentschädigung. Mir liegt vornehmlich an einem Mitarbeiter, dem ich vertrauen kann, … der sich voll und ganz mit der Stiftung identifiziert.“
Kömmel wurde ungeduldig. Er musste den Posten haben, ganz gleich, wie er honoriert wurde. Es würde ohnehin nicht lange dauern, außerdem bekam er ja noch sein Gehalt von der Nordelbischen. „Ich schlage vor, dass ich zunächst mal rein ehrenamtlich arbeite, damit Sie mich besser kennenlernen können. Man soll ja nie die Katze im Sack kaufen. Wenn Sie meinen, ich bin der Richtige, werden wir uns schon über die weiteren Modalitäten einigen.
Rasputin war erfreut. So stellte er sich einen Geschäftsführer vor. Von Anfang an die Initiative übernehmen. Die beiden wurden sich schnell einig. Kömmel würde zunächst für sechs Wochen ohne Bezüge die Geschäftsführung übernehmen und beweisen, was in ihm steckt. Rasputin hatte auch schon den ersten Auftrag für ihn.
„Mein lieber Herr Kömmel“, sagte er, „ich habe noch eine Pflicht zu erfüllen, die zwar nicht mit der Stiftung, dafür aber mit der Erbschaft zusammenhängt.“
Kömmel hörte aufmerksam zu. Jetzt erfuhr er die Einzelheiten des Testaments von Emma Heldenreich. Die Hälfte ihres Vermögens sollten ihr Lebensretter Friedrich Rupp und seine Ehefrau Rieke für den Erwerb und Betrieb eines Tante-Emma-Ladens erhalten. Das war ausdrücklich so festgelegt. Nur für diesen Zweck durfte das Geld angelegt werden, und Rasputin war für die einwandfreie Erfüllung verantwortlich. Selbstverständlich hätte sich Raupe auch allein um den Erwerb eines solchen Ladens kümmern können, doch bisher waren alle seine Bemühungen erfolglos geblieben. Es gab einfach keinen Laden, der auf Dauer den Lebensunterhalt der beiden sichern konnte.
Rasputin bat deshalb Kömmel darum, eine geeignete Immobilie zu finden. Da konnte sich dieser schon mal beweisen.
Kömmel stimmte erfreut zu. Das war seine Chance.
Mit einem ganz besonderen Tante-Emma-Laden wollte er sich sozusagen in die Stiftung „einkaufen“. Ihm schwebte da etwas vor.
Auf den ersten Blick hatte sich Dorpamarsch seit Emmas Geburt vor 115 Jahren kaum verändert. Die Kirche stand immer noch inmitten des Dorfes, doch sie war inzwischen ein Beispiel ökumenischer Zweisamkeit geworden. In ihr waren sowohl die evangelische als auch die katholische Gemeinde untergebracht. Der evangelisch-lutherische Pastor Grummel und der katholische Pfarrer Sixtus verstanden sich prächtig, was besonders am Stammtisch deutlich wurde. Die Gottesdienste waren allerdings immer noch getrennt, außer zu Weihnachten. Da es nur die eine Kirche gab, hatten beide Gemeinden auch nur einen Küster. Er musste aber nicht mehr wöchentlich in den Turm klettern, um die Uhr aufzuziehen. Das geschah jetzt mittels eines Elektromotors, der den schweren Stein wieder nach oben zog, wenn er weit genug unten angekommen war. Zusätzlich kam eine Wartungsfirma, die einmal jährlich den Zustand überprüfte.
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