Charlie Meyer - Ehre, wem Ehre gebührt
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Ein paar Backsteinhäuser im für die Gegend typischen Stil der Weserrenaissance durchbrachen das mittelalterliche Bild hie und da. Dort, wo Brände Lücken hinterlassen hatten, vermutete Bonnie und kniff die Augen gegen das gleißende Sonnenlicht zusammen. Pilaster und Säulen mit dorischen, korinthischen, oder ionischen Kapitellen zierten die reich gegliederten Giebel mit ihren filigranen Seitenbegrenzungen. Waagerechte Bänder, schwere Gesimse und Frieszonen lockerten die massiv wirkenden Stockwerke unter dem Giebel auf.
Gemauerte, im Zickzack angeordnete Blumenrabatten mit noch bunter Sommerbepflanzung - Männertreu, Levkojen und Margeriten - ließen die triste Betondecke der Fußgängerzone freundlicher erscheinen. Das Kopfsteinpflaster war schon in den fünfziger Jahren herausgerissen worden, allerdings mehr durch ein peinliches Missverständnis. Quentin hatte ihr die Geschichte erzählt, als sie zum ersten Mal Arm in Arm durch die Fußgängerzone schlenderten.
Eine Amerikanerin war auf dem Kopfsteinpflaster umgeknickt und hatte sich den Fußknöchel gebrochen. Im Krankenhaus stellte sich heraus, das es Mabel Eisenhower war, die kleine Schwester von Dwight D., also reichte der Commander der Fourth Division aus den Boston Baracks des nahe gelegenen Kasernenstützpunktes offiziell Beschwerde bei der Stadt ein. Der Stadtrat schicke ein Entschuldigungstelegramm ins ferne Amerika. Das Pflaster, auf dem Mabel Eisenhower umgeknickt war, wurde herausgerissen und durch flache Steine ersetzt. Wochen später kam eine Antwort. Amerika akzeptiere die Entschuldigung der Hohenfurter Stadtväter und hoffe, dass nicht noch eine Amerikanerin zu Schaden komme. Darüber hinaus aber fühle es sich aus pädagogischen Gründen verpflichtet, Deutschland und den in Deutschland stationierten GI’s mitzuteilen, dass Dwight D. Eisenhower keine Schwester namens Mabel habe.
In höheren Kreisen sprach man nicht gern über diese Peinlichkeit, aber im Volksmund hatte sich eingebürgert, man gehe auf der Mabel einkaufen. Man treffe sich auf der Mabel in dem und dem Lokal. Man parke in einer Seitengasse der Mabel .
Bonnie ließ gedankenverloren die Blicke schweifen und zwang Löffel für Löffel an die Lippen. Nach der Suppe ließ das innere Zittern ein wenig nach. Sie bestellte sich einen Kaffee und knabberte an dem harten süßen Keks, der neben der Tasse auf dem Unterteller lag. Eine Touristengruppe blieb schräg gegenüber stehen, die Rücken zu ihr, die Gesichter nach oben gerichtet, und sie lauschte mit halbem Ohr den Erklärungen des Stadtführers, der auf ein gelb gestrichenes Fachwerkhaus deutete und irgendetwas von einem gotischen Treppenfries im Tragbalken erzählte, von grünen Dachreitern und neuzeitlichem Schnitzwerk. Von Muschelornamenten und Schmuckbalken mit Drachen und medusenartigen Menschenhäuptern, von vorkragenden Obergeschossen und obeliskenartigen Säulchen. Die gesamte Altstadt sei in den siebziger Jahren restauriert worden, erklärte er mit der Gleichgültigkeit eines Routiniers, der gerade den zehntausendsten Touristen durch die Straßen führt. Dann senkten sich aller Augen und Köpfe wieder, und die Gruppe schob sich weiter.
Bonnie fühlte sich einsamer denn je. Ausgeschlossen von dem bunten Treiben, zum Zuschauen verdammt und ohne Hoffnung auf die Zukunft. Sie zahlte mit fahrigen Bewegungen, sprang auf und stürzte sich entschlossen in die Menschenmenge. Die Beerdigung war bereits in zwei Tagen. Mittwochmorgen zehn Uhr, die formelle Trauerfeier mit geladenen Gästen und einem kalten und warmen Buffet vom Catering Service am selben Abend im Ballsaal von Gut Lieberthal. Es wurden einhundertfünfzig Gäste erwartet, und niemand hatte sie gefragt, ob es ihr recht sei. Die Gräfin hatte beschlossen, und so ward es Gesetz. Die Honoratioren von Hohenfurt - in ihrer Zahl eher unbedeutend - sahen sich ebenso gezwungen, ihre schwarzen Anzüge auszubürsten wie die Verwandtschaft und der befreundete Adel.
Einfach abhauen, dachte Bonnie voll Verlangen, jetzt, auf der Stelle. Fersengeld geben. In den nächstbesten Zug springen.
Aber diesen letzten Triumph gönnte sie weder der Gräfin noch dem Rest von Quentins dünkelhafter Verwandtschaft. Sie würde das Begräbnis mit Würde durchstehen, aber auf der abendlichen Trauerfeier mit Buffet durften sie ihrethalben eine schwarz gekleidete Schaufensterpuppe in einen der Fauteuils entlang der Spiegelwände platzieren. Oder einen Clown engagieren, der die Gäste mit den von ihr erwarteten Showeinlagen unterhielt, sich Champagner ins Gesicht spritzte und über die eigenen Füße stolperte. Vielleicht den Clown aus dem Kaufhaus mit seiner Barbiepuppe. Die Witwe jedoch würde auf der Party ihren Auftritt versäumen, weil sie in ihre Kreise zurückkehrte.
In einem kleinen geduckten und schmucklosen Fachwerkhaus, dem einzigen in der Zeile, dem ein Stockwerk fehlte und das sich ausnahm wie ein Bettler unter Krösussen, fand sie ein Reisebüro. Ein melodisches Glockenspiel kündigte ihren Eintritt an, und sie kaufte für Mittwoch eine Rückfahrkarte nach Berlin, Abfahrt dreizehn Uhr dreißig. Morgen würde sie die gepackten Koffer in der Gepäckaufbewahrung des kleinen Bahnhofs abliefern und sich gleich nach der Beerdigung ins nächstbeste Taxi werfen.
Als sie am Bestattungsinstitut vorbeikam, stockte ihr Schritt. Quentin lag hinter der Schnörkelschrift Noblesse und den cremefarbenen Jalousien. Durch ihre Auflehnung und den Kaffee gestärkt, spielte sie tatsächlich mit dem Gedanken, dem Tod nun doch noch gegenüberzutreten. War es nicht einfach nur bequem und feige sich zu drücken? Hätte Quentin gewollt, dass sie sich überwand? Jetzt könnte sie es tun, Abschied nehmen, und zwar ohne Beisein der Gräfin. Ohne Leonards spöttische Blicke im Rücken. Niemand würde sehen, wenn sie die Fassung verlor und wie ein Schlosshund losheulte. Niemand würde es hören, wenn sie Quentin beschimpfte, weil er für den Preis einer goldenen Taschenuhr sein Leben verspielt und sie im Kreis seiner unmöglichen Familie allein zurückgelassen hatte.
Die Tür mit der herabgelassenen Jalousie spiegelte ihre Gestalt wider. Eine mittelgroße, nicht ganz schlanke Frau mit roten Locken in grüner Bluse und schwarzem Rock. In einer Hand die vollgestopfte Papiertragetasche des Modegeschäftes, in der anderen eine Plastiktüte mit Helenes soliden Tretern im Schuhkarton. Trotz wild klopfenden Herzens musste sie lächeln. Eine junge Witwe, die mal eben zwischen Kaufhaus und Kaffee ihren toten Mann besichtigen geht. Ich war gerade in der Nähe, Schatz, und da dachte ich, ich schau einfach mal vorbei ...
Sie stieß die Tür mit dem Ellenbogen auf und betrat hoch erhobenen Kopfes das Büro des Bestatters mit seiner silbergrauen Polstergarnitur auf lindgrünem Teppichboden. Ein fünfarmiger Kronleuchter aus Glasplättchen hing tief herab. Der schmächtige Mann hinter dem Schreibtisch sprang auf die Beine und hastete um seinen Arbeitsplatz herum. Es war nicht der schwatzhafte Chef, und der große Stein auf ihrem Herzen bröckelte ein wenig.
»Gnädige Frau, womit kann Ihnen das Institut Noblesse dienen?« Er hörte sich an wie ein Kosmetikberater, und während er dienerte, blickte er irritiert auf die Plastiktüten.
»Ich möchte zu meinem Mann«, stieß Bonnie hervor.
»Entschuldigen Sie, gnädige Frau, aber zurzeit ist niemand außer meiner Wenigkeit anwesend. Ich nehme an, Sie wollten sich mit Ihrem Gatten bei uns treffen, um die Bestattung Ihres Herrn Vater oder Ihrer Frau Mutter zu regeln? Ich kann Ihnen versichern, die lieben Verschiedenen werden bei uns in den besten Händen sein und ...«
Sie unterbrach ihn mit heftigem Kopfschütteln, und er zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Nein«, stieß sie heiser hervor. »Nein, es geht nicht um meine Eltern. Ich ... was ich wollte ist ... ich meine, mein Mann ist da hinten ...« Ihre Stimme versagte, und bevor sie erneut hilflos in Tränen ausbrach, schob sie mit einem gepressten Tschuldigung schniefend den verdutzten Bestattergehilfen zur Seite und drückte die Klinke einer Tür hinunter, dessen schwarz gerahmtes Inlett das Relief einer brennenden Kerze zierte.
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