Kokkaline nahm die Hand ihrer Herrin und führte sie an ihre Wange. Auch sie war alt geworden, eine alte nutzlose Sklavin. Doch ihr Rücken war noch immer so gerade wie der eines jungen Mädchens. „Obwohl deine Hand mich oft geschlagen hat, hadere ich nicht mit meinem Leben. Es war erfüllt.“
„Ja, Kokkaline“, flüsterte die Herrin mit einem Lächeln. „Auch dies ist ein Grund für die harte Behandlung - deine Zufriedenheit, dein festes Herz, deine Bescheidenheit, mit dem glücklich zu sein, was dir das Leben schenkte. Ich war immer unzufrieden. Was ich auch bekam – ich verlangte stets nach mehr. Ich neidete dir dein Talent zum Glücklichsein.“ Der aufkommende Husten der Herrin erinnerte Kokkaline an das Bellen eines alten Straßenhundes. Thratta beeilte sich, der Herrin eine Schale mit Wasser an die Lippen zu halten. Nachdem die Herrin einen Schluck getrunken hatte, ließ sie sich zurück auf ihr Lager sinken. „Vielen Menschen habe ich Leid zugefügt – einige hatten es verdient, andere nicht. Jene, die es nicht verdient hatten, kann ich nicht um Verzeihung bitten, da sie bereits den Styx überquert haben. Meine arme Tochter Phano, die ein Opfer meiner Selbstsucht wurde, und Stephanos, den Mann, den ich innig geliebt habe, obwohl er mich einmal aus Schwäche verraten hat. Dies sind die beiden Menschen, um derentwillen ich Reue empfinde. Die Anderen“, nun zeigte sich auf dem von Alter und Krankheit gezeichneten Gesicht der Herrin ein Lächeln, wie es früher oft gewesen war, wenn sie meinte, einen Sieg errungen zu haben. „Die Anderen habe ich nie in mein Herz sehen lassen! Wie habe ich sie an der Nase herumgeführt, diese unbescholtenen Bürger Athens, die so gut und gerecht taten und ihre gierigen Gelüste in jene Häuser trugen, in die zuerst Nikarete und später Phrynion mich brachte. Um sie tut es mir nicht leid, um keinen Einzigen von ihnen! Wenn ich es vermocht hätte, so wären sie allesamt in den Tartaros gestürzt worden und ihre Taten vor den Göttern offenbart. Doch was vermag eine Frau auszurichten in dieser Welt der Männer? Ich habe mein Bestes getan!“ Erneut schüttelte sie der Husten. Kokkaline hob den Kopf der Herrin an, während Thratta ihr die Trinkschale an die Lippen hielt. Nur langsam schien die Herrin sich zu beruhigen. „Auch ihr kennt sie, diese feinen Bürger Athens.“ Sie suchte mit fiebrigen Augen die Zustimmung ihrer Sklavinnen. Thratta und Kokkaline nickten stumm. „Ja“, flüsterte die Herrin heiser. „Ihr wart stets an meiner Seite, und doch wisst ihr nicht wie es dazu kam, dass ich die Frau wurde, die ich bin. Ihr wisst nicht, woher meine Herzenskälte rührt. Deshalb will ich euch meine Geschichte erzählen, bevor ich sterbe und euch die Freiheit schenke. Es wird nur einen Tag dauern, nur so lange bis die Sonne untergeht. Obwohl ihr mich verlassen könnt, da ich euch in diesem Augenblick die Freiheit schenke, hoffe ich, dass ihr mir diesen letzten Dienst erweisen werdet.“ Sie machte eine Pause und sah die Sklavinnen bittend an. Es war Kokkaline, die ihr antwortete. „Wir bleiben bei dir, bis du den Styx überquert hast. Wir würden auch bei dir bleiben, wenn der Fährmann dir weitere Jahre gewährt. Was bedeutet die Freiheit schon für uns, die wir alt sind?“ Kokkalines blaue Augen vergossen keine Tränen, doch sie trauerte im Angesicht des Abschieds, der unzweifelhaft bevorstand. Gewiss, die Herrin war streng gewesen und hatte sie oft geschlagen. Doch was machte das schon. Die Hände der Herrin waren nicht so hart gewesen wie die der Herren, welche sie mitunter auch geschlagen hatten.
Die Blicke der Herrin wanderten über die weiß gekälkte Decke des Raumes. Sie suchte nach einer Tür in ihrem Geist, die es aufzustoßen galt, um den Staub der Jahre und des Vergessens von ihren Erinnerungen zu nehmen. Als sie dies gefunden hatte, atmete sie tief durch. Ihre Stimme festigte sich mit den ersten Worten, so als wäre die Herrin zurückgekehrt in eine Zeit, in der Schmerz für sie nur ein bloßes Wort ohne Bedeutung gewesen sein musste.
„Ich muss ungefähr sechs Jahre alt gewesen sein, als ich an der Hand meiner Mutter nach Korinth kam ... sechs Jahre, aber ich weiß es nicht mehr genau. Ich weiß noch nicht einmal, wie die Polis hieß, in der ich mit meiner Mutter lebte, noch weiß ich, wer mein Vater war ... ich wusste damals auch nicht, warum meine Mutter mit mir nach Korinth kam. Heute weiß ich es – damals staunte ich nur über diese große Stadt, in die mich meine Mutter mitgenommen hatte ... ich war ein staunendes Kind, das nichts Böses ahnte und kannte.“
50 Obolen für eine Kindheit
„Jetzt lass dich nicht ziehen wie ein Esel, und bleib nicht überall stehen“, beschwerte sich ihre Mutter, als Neaira den Akrobaten anstarrte, der sich eine brennende Fackel in den Rachen schob und diese mit einer Qualmwolke zum Erlöschen brachte. Sein Oberkörper glänzte vom Öl, um seine Hüften hatte er ein Tuch gewickelt. Es war ein heißer Sommertag, und Neaira hätte es ihm gerne gleichgetan und sich den durchgeschwitzten Chiton vom Leib gerissen. Als er die gelöschte Fackel zur Seite warf und Neairas Mutter entdeckte, setzte er ein freches Grinsen auf und vollführte ein paar kreisende Bewegungen mit dem Becken. Unvermittelt zog die Mutter Neaira weiter, ohne dass das Mädchen etwas von den Anzüglichkeiten des Mannes verstanden hätte. Für Neaira war alles in Korinth neu und aufregend, während sie sich von ihrer Mutter durch die Straßen ziehen ließ. Der Lärm der Stimmen, die vielen Menschen auf der Agora in ihren farbenfrohen oder weißen Chitonen, die Mäntel der edlen Herren in tiefem Rot oder Purpur, die Sklaven in ihren kurzen Chitonen, welche ihrem Stand gemäß die rechte Schulter unbedeckt ließen. All die verschiedenen Gerüche, welche aus den Garküchen und von den Verkaufständen und Läden her in ihre Nase zogen oder die großen Gebäude mit den hohen Säulen und eben jene Straßenkünstler und Akrobaten, die auf der Agora ihre Kunststücke darboten, brachten Neaira zum Staunen, obwohl über all diesen Dingen der brodelnde Gestank einer großen Polis lag. Es stank geradezu erbärmlich an diesem heißen Sommertag, doch Neaira war es egal. Ihre Augen konnten von dem Geschehen um sie herum nicht genug bekommen. Sie kannte nicht viel mehr als die enge staubige Gasse, in der sie mit ihrer Mutter ein ärmliches Zimmer bewohnte, bei einer auffällig geschminkten Frau, die jeden Abend an ihre Tür klopfte und von der Mutter einen Obolus verlangte. Es war eine einsame Straße, in der sie lebten, kaum ein Hund lief tags vorüber, nie schien etwas zu geschehen, was die Eintönigkeit ihres Lebens unterbrach. Bisher hatte das Neaira jedoch nicht gestört. Tagsüber blieb sie allein und beobachtete ihre Mutter von der Fensteröffnung aus, wenn sie in einem leichten Chiton oder an kühleren Tagen in einem Peplos mit rotem Mantel davonging, wobei die Sohlen ihrer Sandalen Muster im Sand der Straße hinterließen. Es war für Neaira ein tröstliches Ritual geworden zu beobachten, wie die Muster nach und nach vom Wind verweht wurden, und erst wenn es dunkel wurde und ihre Mutter heimkehrte, ihre Sandalen erneut Muster in den Sand der Straße zeichneten. So wartete sie Tag für Tag und vertrieb sich die Zeit, indem sie aus dem Fenster sah oder vor der kleinen Statue der Göttin Aphrodite betete, wie sie es von ihrer Mutter kannte, die jeden Abend für die Göttin etwas Mhyrre entzündete und sie darum bat ihre Jugend zu erhalten. Neaira sprach dieselben Gebete an die Göttin. Wie es Kinder gerne tun, plapperte sie ihrer Mutter alles nach. Aphrodite, so wusste Neaira, war ihrer beider Schutzgöttin. Sie brachte ihr kleine Opfer dar - Blumen, die sie am Straßenrand fand, ein paar Tropfen des Duftöls, das ihre Mutter benutzte und schöne Steine, die sie auf der Straße fand. Es waren Schätze jener Art, die nur glänzend erscheinen, solange sie mit Kinderaugen betrachtet werden. Neaira war in der Trostlosigkeit der Gasse niemals einsam. Ihre Welt war die der kindlichen Vorstellungskraft. Wie jedes Kind kannte sie die Schlupflöcher, durch welche sie aus der Enge der Wirklichkeit ausbrechen konnte. Wenn die Mutter am Abend zurückkehrte, brachte sie einen Laib Brot und manchmal harten Käse mit, den sie schweigend aßen. An jenen Abenden war die Mutter immer müde und Neaira, erschöpft von den Abenteuern ihrer kindlichen Gedankenflut, ebenfalls. Nur selten verließen sie gemeinsam die Enge des Zimmers. Dann gingen sie eine Nachbarin besuchen, die ein einfaches, jedoch sauberes Badehaus mit einem marmornen Louterion, einem Waschbecken, besaß. Solche Tage waren für Neaira besonders schöne Tage, denn dann lachte ihre Mutter und wusch ihr das lange braune Haar mit duftendem Öl.
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