Sie seufzte und wischte sich über das Gesicht, während das Grauen verflog.
„ Ist schon gut“, murmelte Rheys, der sich neben ihr aufgesetzt hatte, und drückte sie sanft zurück auf die Matratze, wo sie sofort von der Wärme ihrer Körper unter den Decken umfangen wurde. Das Zittern ihrer Glieder ließ nach. Rheys zog sie an sich, sie legte den Kopf auf seine Brust und lauschte dem steten ruhigen Schlag seines Herzens.
Es waren Wochen vergangen seit ihrem letzten Albtraum und trotzdem überkam Jessy die Angst, dass alles wieder von vorne beginnen könnte. Während sie nämlich begann, tagsüber ein normales Leben in der Eisenfaust zu führen, wurde sie nachts stärker und stärker von Träumen gepeinigt, die ihr nur eins zu sagen schienen. Du gehörst nicht hierher. Dann irrte sie an finsteren, furchteinflößenden Orten umher, unfähig zu schreien oder irgendetwas zu tun. Das Gefühl, völlig allein und verloren zu sein war so stark, dass sie schluchzend und verzweifelt aufwachte und nur Rheys’ Anwesenheit konnte sie beruhigen. Manchmal war sie sogar aufgestanden und im Zimmer umher geirrt und es war ihm nicht gelungen, sie zu wecken, während sie weinte und um Hilfe rief. In diesen Wochen fiel es ihr auch immer schwerer, durch den Tag zu kommen.
Rheys’ Atem beruhigte sich langsam und obwohl sein schwerer Arm sie immer noch umschlungen hielt, spürte sie, dass er eingeschlafen war. Bald würde der Morgen grauen und sie sollte auch noch ein wenig schlafen, doch der Traum hatte sie in Aufregung versetzt und sie hatte Angst, die Augen wieder zu schließen.
Als der Winter die Eisenfaust fest in seinen Klauen hielt und sie völlig eingeschneit waren, hatte Jessy ganz plötzlich ein so heftiges Heimweh gepackt, dass sie kaum wusste, wie sie hier weiterleben sollte. Die Dunkelheit und Enge der Burg und der Verzicht auf so viele schöne Dinge machten sie wahnsinnig. Dann starb Boscos Tochter und sie verfluchte diese schreckliche rückständige Welt, in der sie gefangen war. Ständig begannen ihre Gedanken um ihr Zuhause zu kreisen, ihre Familie und Freunde. Hatten ihre Eltern sich mit ihrem Tod abgefunden? Die Vorstellung, wie sie um sie trauerten, war Jessy unerträglich. Die Westländer bereiteten die Festlichkeiten zur Wintersonnenwende vor und Jessy mochte ihr Bett nicht mehr verlassen, weil sie ständig weinte, wenn sie an Weihnachten denken musste. An all das, was sie vielleicht nie wieder sehen und erleben würde. Es kümmerte sie nicht mehr, was aus Albin und Amileehna wurde und sie schwor sich, sofort ohne einen Blick zurück nach Hause zu gehen, wenn sich die Gelegenheit bot. Rheys, der nicht besonders gut im Trösten hysterischer Frauen war, drohte und schimpfte, wich aber nicht von ihrer Seite. Er war immer da, wenn sie Essen verweigerte oder ein wenig zu lange auf dem vereisten Wehrgang im kalten Wind stand und in den verführerischen Abgrund schaute. Sie nahm die Menschen, die sie lieb gewonnen hatte, nicht mehr wahr, so groß war der Schmerz um die, die sie verloren hatte. Um das Leben, das sie nicht mehr führen konnte. Und um sie herum feierten die Bewohner der Eisenfaust die längste Nacht des Jahres…
Sebel klopfte leise an die Tür und kam herein. Ihr hübsches Gesicht war gerötet von dem eisigen Wetter draußen und Schneeflocken glitzerten auf ihrem Umhang. Sie trug einen großen Korb über dem Arm und stellte ihn auf den Tisch. Jessy lag im Bett und sagte nichts. Sie fühlte sich krank und elend und wollte am liebsten niemanden sehen. Sebels Fröhlichkeit raubte ihr den letzten Nerv. Niemand versuchte so penetrant sie aufzubauen, wie die blonde Zofe.
„ Ich habe ein paar Dinge von meiner Mutter mitgebracht“, sagte sie nun betont gut gelaunt und begann tönerne Gefäße und Flaschen auf den Tisch zu stellen.
„ Ich will nichts“, krächzte Jessy und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand.
„ Warte nur ab, du hast das noch nicht gekostet“, schwatzte Sebel weiter. „Das wird deine Lebensgeister wecken. Und du musst etwas essen. Heute Abend solltest du etwas im Magen haben.“
„ Vergiss es. Ich gehe da nicht hin.“
An diesem Abend wurde im Bergfried die Wintersonnenwende gefeiert. Das Fest des Königs im Palast hatte Jessy schon gestern über sich ergehen lassen und es war eine einzige Qual gewesen. Die steifen Rituale, die Förmlichkeit, das viele Essen und die Menschen hatte Jessy kaum ertragen. Sie war ganz und gar nicht in Stimmung für ein weiteres Fest.
„ Alle werden traurig sein, wenn du nicht kommst“, sagte Sebel und setzte sich auf den Bettrand. „Komm schon, es wird bestimmt ein großer Spaß.“
Jessy wusste nicht, wie es geschah, aber Sebel brachte sie tatsächlich dazu, die köstlichen Kekse ihrer Mutter zu probieren und sich rechtzeitig zu waschen und anzuziehen. Glücklicherweise gab es im Bergfried keinerlei Kleidungsvorschriften und sie konnte Hemd und Hose anziehen. Schließlich stapfte sie mit Sebel bei Einbruch der Dunkelheit durch den verschneiten Hof. Der Bergfried war sonst eher ein wenig einladendes altes Gemäuer, doch heute brannte Licht hinter den kleinen Fenstern und schon von weitem waren Gelächter und Musik zu hören. Jessy wollte am liebsten wieder umkehren. Doch sobald sie den Turm betreten hatten, und sie die fröhlichen Gesichter sah, wusste sie, dass sie länger bleiben würde, als geplant.
Der kleine Raum, in dem die Wölfe sonst aßen und in ihrer Freizeit zusammen saßen, war mit grünen Zweigen geschmückt und so voller Menschen, dass er schier aus den Nähten platzte. Die Tische bogen sich unter dem Gewicht von Platten mit Fleisch, Brot und Süßigkeiten und überschäumenden Bierkrügen. Außer den Wölfen waren Kyra und ihre Kinder da, ein paar Zofen und Dienstmädchen, Freunde aus der Palastwache und Männer aus dem Kriegerlager. Alle lachten und die meisten waren auf dem besten Weg, richtig betrunken zu werden. Jessy blieb gar keine Gelegenheit, sich still in eine Ecke zu setzen und zu warten, bis sie wieder gehen konnte. Im Nu war sie in Gespräche verwickelt, mit Essen versorgt und merkte, wie sie sich entspannte und ihr Kummer in den Hintergrund rückte.
Sie beobachtete Albin, der mit seinen Freunden lachte und scherzte. Selbst Kyra schien ihre Traurigkeit ein wenig zu vergessen und tanzte mit Bosco. Sie alle waren hier zuhause, an dem Ort, an den sie gehörten. Jessy hatte auch das Gefühl gehabt, hierher zu gehören. Und plötzlich erinnerte sie sich wieder daran. Vielleicht hatte sie tatsächlich eine neue Familie gefunden.
Rheys erschien neben ihr und streckte ihr die Hand hin. Sie sah ihn fragend an.
„ Tanzen“, sagte er. Auch ihm tat die Stimmung gut, er wirkte geradezu fröhlich und hatte schon einiges getrunken.
„ Ist das dein Ernst?“ fragte Jessy fassungslos und amüsiert zugleich.
„ Ich frage dich wahrscheinlich nie wieder, also solltest du es dir nicht entgehen lassen“, sagte er.
Jessy war zu überrascht um abzulehnen und während Rheys sie zum Klang von Trommel und Geige herumwirbelte, bis ihr schwindelig wurde, stellte sie fest, dass sie ihn während der letzten Wochen gar nicht wirklich beachtet hatte. Das Tanzen schien nicht seine Sache zu sein, er rempelte ständig jemanden an und trat Jessy auf die Füße. Schließlich ließ sie sich lachend auf eine Bank fallen und zog ihn neben sich, damit er nicht noch jemanden ernstlich verletzte. Ganz unerwartet beugte er sich herüber und küsste sie, was er sonst niemals in der Öffentlichkeit tat. Dann lächelte er sie ein wenig unsicher an.
„ Komm, ich zeige dir etwas“, sagte er laut um den Lärm zu übertönen. Jessy folgte ihm nach draußen, wo tiefe Nacht herrschte und einzelne Schneeflocken vom pechschwarzen Himmel rieselten. Nach der Hitze drinnen traf sie die Kälte wie ein Schlag und sie schlang die Arme um ihren Körper. Der Atem stand in dichten Wolken vor ihrem Mund.
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