„ Hast du genug herum getrödelt? Das hier erledigt sich nicht von allein!“
Jessy musste beim Klang der tiefen Stimme lächeln und wandte sich um. Bosco lehnte an einem Baum und reinigte seine Fingernägel mit einem riesengroßen Jagdmesser. Der Anblick ihres Freundes ließ die mühsam heraufbeschworene Erinnerung an ihre eigene Welt mit einem Schlag verblassen. Auch er schien diesen Vormittag im friedlichen Sonnenschein, weit weg von der Eisenfaust, zu genießen. Ihre Pferde schritten ruhig über die kleine Lichtung und knabberten an den ersten zarten Grashalmen. Als Jessys Blick zu der toten Hirschkuh wanderte, die auf der Erde lag, spürte sie wieder, wie ihr Magen revoltierte. Allein die Vorstellung, dass sie das Tier getötet hatte, ließ die Übelkeit erneut aufflammen. Bosco warf das Messer in ihre Richtung und obwohl Jessy die Bewegung nur aus dem Augenwinkel sah, fing sie die Waffe geschickt auf.
„ Ich weiß, dass es dir widerstrebt“, sagte Bosco und stieß sich von dem Baumstamm ab. „Aber es gehört zum Jagen eben dazu. Ein erlegtes Tier bringt dir nichts, wenn du nicht lernst, es auszuweiden.“
Natürlich hatte er recht. Die Augen der Hirschkuh waren leblos und ins Nichts gerichtet. Die Wunde, wo Jessys Pfeil sie getroffen hatte, war nur klein und doch hatte sie ausgereicht, das Tier zu töten. Sie umfasste das schwere Messer fester und seufzte tief.
„ Also los“, sagte sie. „Ich hoffe wirklich, dass du nicht Bambis Mutter bist.“
Anstatt Jessys erster Jagdbeute aßen sie ein karges Mittagessen aus Brot, Käse und Speck, das sie in den Satteltaschen mitgebracht hatten. Das eiskalte Wasser aus dem Bach schmeckte herrlich. Während sie beisammen saßen, erzählte Bosco Geschichten aus seiner Kriegerausbildung und Jessy traten vor Lachen die Tränen in die Augen. Die Sonne stieg höher und wärmte sie. Erste Insekten summten in der Frühlingsluft. Immer wieder hielt Jessy ihr Gesicht ins Licht und spürte, wie dieser Tag das Eis in ihrem Inneren zum Schmelzen brachte.
„ Gut, dass du geheiratet hast“, sagte sie, als Bosco gerade eine weitere Anekdote über ein wüstes Gelage unter jungen Burschen beendet hatte. „Sicher wärst du längst in einer Kneipenschlägerei umgekommen.“
Bosco verzog die Lippen. Er lachte in letzter Zeit seltener und Jessy freute sich, ihn so guter Stimmung zu sehen. Sie schwiegen einen Moment.
„ Es ist wirklich schön hier“, sagte sie schließlich. „Schön, aus der Burg herauszukommen.“
Bosco erwiderte ihren Blick und nickte.
„ Da hast du recht. War ein harter Winter. Für uns alle.“
Wieder schwiegen sie und Jessy schauderte plötzlich. Nein, sie wollte die düsteren Tage vergessen, die hinter ihnen lagen.
„ Ich glaube, es wird Zeit“, meinte Bosco und stand auf. „Genug gefaulenzt.“
Unwillig erhob Jessy sich und packte das Bündel zusammen, in dem sie ihren Proviant verpackt hatte. Dann ging sie hinüber zu Lia und schob ihr einen Brotrest zwischen die samtigen Lippen. Sie streichelte die weiche hellbraune Stirn und machte sich daran, den Sattelgurt zu straffen, bevor sie aufstieg.
„ Gib ihr nicht zu viel Brot“, mahnte Bosco. „Sie ist ziemlich fett geworden. Das Herumsitzen in der Burg hat niemandem gut getan.“
Jessy warf ihm einen strengen Blick zu. „Willst du damit sagen, ich bin fett geworden?“
Bosco lachte auf und schwang sich auf den Rücken seines Wallachs. „Große Mutter, nein. Du bist genau so knochig wie immer.“
„ Sehr freundlich.“
„ Du weißt, ich spare mir alle Nettigkeiten für Kyra auf“, sagte er zwinkernd. Er selbst hatte sich ebenfalls kaum verändert und war noch immer groß und kräftig wie ein Bär ohne eine Spur von Winterspeck. Jessy stieg lachend in den Sattel und sie machten sich auf den Rückweg zur Eisenfaust.
Der Wald lichtete sich und schließlich erreichten sie die Weiden, die zur Burganlage gehörten und die bereits in sattem Grün standen. An den Bäumen und Sträuchern, die dem Vieh und den Pferden im Sommer Schatten spendeten, sprossen dicke Knospen und die ersten Lämmer stolperten durch die feuchten Wiesen. Auch die Pferde genossen die wieder gewonnene Freiheit und einige von ihnen folgten Jessy und Bosco in ausgelassenem Galopp, bis die Zäune ihnen den Weg versperrten. Vor dem klaren blauen Himmel wirkte die königliche Burg von Westland noch herrschaftlicher. Der hellgraue Stein leuchtete in der Sonne. Ein Wachtposten nickte ihnen zu und gab das Zeichen, eines der kleinen Tore für sie zu öffnen. Hintereinander ritten Jessy und Bosco in den riesigen, belebten Innenhof. Die Burg summte wie ein Bienenstock vor Geschäftigkeit. Nach dem Winter wurde von der fleißigen Dienerschaft das Unterste zu Oberst gekehrt. Jeder Raum, vom Thronsaal bis zur kleinsten Kammer wurde gesäubert, jeder Teppich und jedes Kissen gelüftet. Kyra, die Köchin und Boscos Frau, ließ die Vorratskammern mit frisch eingesalzenem Fisch, Käse und dem ersten Gemüse des Jahres füllen und in der Schlachterei herrschte Hochbetrieb, damit es frische Würste gab. Die Mägde waren Tag und Nacht damit beschäftigt, die geschorene Wolle zu verarbeiten und täglich gab es in den Ställen neu geborene Ferkel und Kälber. Alles war aus seiner winterlichen Starre erwacht.
Im Schritt ritten Jessy und Bosco durch den Trubel der hin und her eilenden Diener. Vor dem Prinzenbau, in dem Jessy noch immer das selbe Zimmer bewohnte, standen einige Jungen in feiner Kleidung beisammen, die nun ins Kriegerlager gehen und ihre Ausbildung beginnen würden. Ihre Gesichter waren blass vor Aufregung und Angst, doch ihre Augen glänzten vor Stolz. In der Mitte des Hofes ragte der trutzige Bergfried auf, das älteste Gebäude der Burganlage und das sah man ihm auch an. Das Gestein war dunkel und von Moos überwuchert, aber noch immer war der Turm stabil und beherbergte in seinen untersten Stockwerken die Männer der Königsgarde, die nach ihrem Wappentier nur „die Wölfe“ genannt wurden. Jessy kannte sich nach sieben langen Monaten in der Eisenfaust aus und hatte keine Angst mehr, sich irgendwo zu verirren. Und sie kannte auch die meisten Bewohner. Besonders unter den Dienern gab es keine Fremden mehr für sie. Denn obwohl sie eigentlich ein Gast des Königs war und somit wohl zur Oberschicht gehörte, hatte sie ausschließlich Freundschaft mit Zofen, Mägden und Stallknechten geschlossen.
Vor dem Bergfried kam ihnen Rojan entgegen. Er griff nach Lias Zügeln.
„ Erfolgreich, wie ich sehe“, sagte er zufrieden und wies auf das erlegte Reh, das hinter Jessys Sattel festgebunden war. Sie lächelte, denn obwohl das Jagen ihr keinen Spaß machte, war sie stolz auf ihre Beute.
„ Ich hatte immerhin den besten Lehrer.“
Rojan nickte knapp. Er war niemand, der sich mit seinem Können brüstete, auch wenn seine manchmal übermenschlichen Fähigkeiten in Jagd und Kampf das gerechtfertigt hätten. Er hatte Jessy wochenlang Unterricht im Bogenschießen gegeben und sie hatte nun ein völlig neues Gefühl für Balance, Konzentration und Körperbeherrschung. Es hatte ihr viel Spaß gemacht, von ihm zu lernen. Denn das war es, was sie den ganzen Winter über getan hatte. Die Fertigkeiten der Wölfe zu erlernen.
„ Ja, der Schuss war nicht schlecht“, sagte Bosco. „Aber eine größeres Tier hätte sie damit niemals erledigt. Dafür braucht man schon so ein Schätzchen.“
Er tippte zärtlich die große Armbrust an, die über seine Schulter ragte.
„ Ach, mit diesem Ding kann jeder einen Hirsch erlegen“, warf Dennit ein, der sich zu ihnen gesellt hatte. Jessy bezweifelte das, denn der Pfeil, den sie mit der Armbrust abgeschossen hatte, war meterweit am Ziel vorbei gegangen.
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