„Sie haben recht! Ich vermute auch eine Magmakammer bei 1.200 Metern. Wenn hier ein Vulkan entstehen sollte, ist vermutlich der Rheingraben wieder aktiv. Diesen Umstand hätte ich niemals für möglich gehalten. Ich bin absolut fassungslos“, sagt er sichtlich erschüttert.
„Was machen wir jetzt?“
„Ich werde jetzt den Ministerpräsidenten, den Innen- und den Umweltminister von Baden-Württemberg hintereinander anrufen. Wir können nicht warten. Wir müssen es bekannt geben“, erklärt er augeregt.
„Das sehe ich genauso. Sie wissen aber auch, dass hier eine Evakuierungszone von mindestens 50 Kilometern notwendig wird. Das heißt, dass die Städte Lahr, Offenburg, Strasbourg, Selestat, Emmendingen und eventuell sogar Freiburg geräumt werden müssen!“
„Die Evakuierungsfragen soll die Landesregierung regeln. Zunächst müssen wir einen Krisenstab einrichten mit einem Vor-Ort-Beobachtungsposten in Kürzell und einer Hauptleitstelle in sicherer Entfernung“, ordnet er, jetzt wieder einigermaßen gefasst, an.
Prof. Dr. Stiller setzt sich in sein Auto und telefoniert. Eine Stunde später kommen permanent Autos vorgefahren und Prof. Dr. Stiller und ich erklären jedes Mal den Anwesenden den Sachverhalt von Neuem. Auch der Innenminister mit seinen Referenten ist gekommen. Der Polizeichef aus Stuttgart, der Leiter der Berufsfeuerwehr aus Lahr, Behördenvertreter aus dem Elsass und die Bürgermeister aus den umliegenden Gemeinden und Städten sind ebenfalls eingetroffen. Von den Universitäten Freiburg, Karlsruhe, Strasbourg, Basel und Zürich sind Geologen und Vulkanologen im Laufe des Abends angereist.
Zunächst wird vom Innenminister und seinen Referenten ein Krisenstab gebildet. Auch Prof. Dr. Stiller und ich gehören zum Krisenstab dazu. Insgesamt werden vorerst zwanzig Leute in den Stab berufen. Darunter auch mehrere Geologen und Vulkanologen von den verschiedenen Universitäten. Nach telefonischer Rücksprache mit meinem Arbeitgeber werde ich dem Stab mit einem guten Stundensatz als freier Mitarbeiter zur Verfügung gestellt. Die Stundenabrechnung wird später am Monatsende durch meinen Arbeitgeber an das Innenministerium geschickt.
Wie es Prof. Dr. Stiller schon vermutet hat, wird hier vor Ort in Kürzell ein Beobachtungsposten eingerichtet. Die Hauptleitstelle wird in Freiburg im geologischen Institut errichtet. Das Institut ist ungefähr 50 Kilometer von Kürzell entfernt, sodass eine gewisse Sicherheit für die Leitstelle vorhanden ist. Sollte es zu einem massiven Vulkanausbruch kommen, muss unter Umständen die Hauptleitstelle weiter nach Süden verlegt werden.
Schon am ersten Abend werden weitere geophysikalische und seismische Messungen durchgeführt. Alle Ergebnisse sprechen für eine Magmakammer in 1.200 Metern Tiefe. Die Nachricht von der aufgestiegenen Magmakammer in Kürzell im Rheingraben hat sich sehr schnell verbreitet. Die geologischen Institute in Deutschland, Frankreich und der Schweiz mit Erdbebenbeobachtungsstationen sind bereits informiert. Weitere Vorab-Informationen gehen an alle anderen seismologischen Messstationen in der Welt. Die Geologen und Vulkanologen im Krisenstab sind sichtlich erschüttert, dass ihr inaktiver Rheingraben wieder aktiv geworden ist.
Am Abend beschließt der Krisenstab Folgendes:
Einrichtung einer Vor-Ort-Überwachungsstation mit permanenter Besetzung,
Errichtung der Hauptleitstelle im Freiburger geologischen Institut,
Erstellung von Evakuierungsplänen für alle Städte und Gemeinden im Umkreis von 50 Kilometern,
Fachliche Leitung durch Herrn Prof. Dr. Stiller (Vulkanologe),
Einsatzleiter ist ein Referent vom Innenministerium,
Pressesprecher ist ein weiterer Referent vom Innenministerium,
Information der Bevölkerung über die Medien durch den Pressesprecher,
Information der französischen und schweizerischen Regierungen und Fachbehörden durch das Innenministerium des Landes.
Um Mitternacht verlasse ich müde und ausgelaugt Kürzell. Ich fahre nach Colmar in mein Haus und gehe mit Alpha noch eine Runde Gassi. Danach gönne ich mir in aller Gemütlichkeit erst einmal ein schönes Bier, um Abspannen zu können. Was für ein Tag! Aber ich habe richtig gehandelt. Wenn der Vulkan tatsächlich ausbrechen sollte, war es richtig, die Menschen vorher zu warnen, und wenn nicht, war es auch richtig. Ich falle müde ins Bett.
Am nächsten Morgen wache ich verwirrt auf. Hast du das mit dem Vulkan nur geträumt? Nein, es war alles Realität. Zum Wachwerden koche ich mir einen Espresso mit heißer Milch und streichele Alpha über den Kopf.
„Na, Alter, das war ein Tag gestern, oder?“, rede ich liebevoll mit dem Hund.
Alpha freut sich über die Aufmerksamkeit. Dann rufe ich meinen Chef im Büro an, dass ich heute den ganzen Tag in Kürzell bei Lahr bin. Nach dem Frühstück laufe ich mit Alpha noch eine Runde und fahre anschließend zu meinem Bohrturm nach Kürzell. Nach Auffassung meines Chefs wäre es das Beste, das Bohrgestänge heute zu ziehen und das Bohrloch anschließend mit Ton-Pellets und Füllmaterial zu verfüllen. Damit gibt meine Firma diese Bohrung auf, denn nach einer Verfüllung ist der Vorgang nicht reversibel. Doch wir müssen es aus Sicherheitsgründen durchführen. Das Magma könnte weiter aufsteigen und unser Bohrloch erreichen. Dann hätten wir eine Wegsamkeit für das Magma geschaffen, die alle Beteiligten nicht so gut fänden.
In Kürzell angekommen, tagt schon der Krisenstab in einem neu aufgestellten Baucontainer. Drei Baucontainer wurden eigens miteinander verbunden, um einen kleinen Sitzungssaal für zwanzig Personen herzustellen. Ich teile den Anwesenden unsere Absicht mit, das Bohrgestänge zu ziehen und das Bohrloch anschließend zu verfüllen. Alle Teilnehmer stimmen dem Vorschlag zu.
„Wann wird der Vulkan loslegen?“, fragt der Einsatzleiter die anwesenden Geologen und Vulkanologen.
„Das können wir nicht genau sagen. Für Prognosen ist es jetzt noch zu früh. Aber wenn sich die Erdbebenintervalle von derzeit zwei Stunden verringern sollten oder die Laufzeiten und Intensität der Beben zunehmen, müssen wir mit einem baldigen Ausbruch rechnen“, erklärt Prof. Dr. Stiller.
„Wie sollen wir im Vorfeld Menschen evakuieren, wenn wir nicht wissen, wann es passiert?“, fragt der andere Referent des Innenministeriums.
„Am besten ist es, erst zu evakuieren, wenn der Vulkan tatsächlich ausbricht. Wir haben dann noch genug Zeit, die Menschen in Sicherheit zu bringen“, schlage ich vor.
„Diese Vorgehensweise erscheint mir ebenfalls als die beste. Wir können nicht Millionen von Menschen auf Wanderschaft schicken und der Vulkan bricht erst in einem halben Jahr oder gar nicht aus“, meint der Einsatzleiter.
„Das stimmt“, bestätige ich und Prof. Dr. Stiller nickt beipflichtend.
„Die Evakuierung von Strasbourg, Lahr, Offenburg, Emmendingen, Selestat und vielleicht sogar Freiburg würde mehrere Tage dauern. Außerdem müssten wir die Bundesautobahn A5 sperren und die Rheinschifffahrt zwischen Sasbach und Kehl einstellen“, erklärt der Einsatzleiter.
„Es kann auch passieren, dass wir Freudenstadt und Baden-Baden räumen müssen“, füge ich hinzu.
„Was passiert mit dem Rhein, wenn Lava den Flusslauf erreicht und das Wasser sich aufstaut?“, fragt der Pressesprecher.
„Wenn Lava das Rheinwasser erreichen sollte, entsteht eine riesige Dampfwolke und die Lava könnte tatsächlich den Flusslauf blockieren. Das Wasser würde sich aufstauen und einen neuen Weg mit dem geringsten Widerstand suchen“, antwortet Prof. Dr. Stiller.
„Ein viel größeres Problem wäre es, wenn sich beim Vulkanausbruch pyroklastische Ignimbrit-Abgänge bilden würden. Das sind vulkanische Lawinen aus glühender Lava, Steinen, Gasen und Wasser, die mit hoher Geschwindigkeit den Vulkanabhang herunter wirbeln und alles andere überdecken. Diese pyroklastischen Lawinen erreichen eine Geschwindigkeit von bis zu 800 Stundenkilometern und sind für alle Lebewesen absolut tödlich. Niemand kann vor einer pyroklastischen Lawine flüchten, auch nicht mit dem Auto“, gibt ein weiterer Geologe zu bedenken.
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