„Was schwätzt denn so lang mit dem Kerl da drauß´n, der so tut, als möcht er aus der Gegend sei?“Hedwigs bissige Worte begleiteten Mara auf dem Weg zum Tresen, wo sie außer dem Essenswunsch des Gastes nichts zurücklassen wollte.
„Ach nix weiter. Ich dacht, es hätt ein früherer Klassenkamerad sein können.“ Sie legte den kleinen Bestellzettel auf eine trockene Stelle vom Tresen und fuhr sich so beiläufig wie möglich durchs volle Haar. „Aber ich hab mich getäuscht.“ Das „schon wieder“ behielt sie lieber für sich.
Fred brauste durch die Dunkelheit. Er war wütend. An den Bratkartoffeln lag es nicht, da hätte er sich reinlegen können, so aromatisch war die Balance zwischen Kümmel, einem Hauch Majoran und dem frischen, nicht hart gerösteten Speck. Und erst der Wurstsalat. Zum Teufel! Er kam nicht drauf, welchen milden, fruchtigen Essig Maras Chefin benutzte, der so eine dominante, aber leichte Säure hatte. Da war bestimmt kein Gramm Zucker nötig, um ausgewogen und bekömmlich zu schmecken. Das Öl schien vorgewärmt, gab einen zarten Glanz auf die Schwarzwurst und zog nussig in seine Nase. Raffiniert. Hätte er dieser Gegend doch eher ranziges Öl und dreimal aufgewärmte Bratkartoffeln zugetraut.
Glücklicherweise verschlug es ihm nicht den Appetit, sondern nur die Sprache, als Mara mit den schlichten, aber nett angerichteten Porzellanschüsseln auf die Terrasse kam, ihm zuvorkommend auftrug und ihn so ganz nebenbei, als wäre es die normalste Angelegenheit der Welt, fragte: „Fährst eigentlich noch Motorrad, Fred?“
Fred kurvte mit quietschenden Reifen um einen ländlichen Kreisverkehr. Weg war die gemütliche Landpartie vom Nachmittag. Die gleiche Strecke, eine andere Stimmung, eine neue Zeit. Wenn er ehrlich war, hatte er sich kurz gefragt, ob diese unglaublich nette Bedienung Mara sein konnte. Schon bevor sie sich zu erkennen gab. Wenn er noch ehrlicher war, wollte er es gar nicht wissen. Sonst hätte er sie ja nicht vergessen gehabt...
Seine Mara. Es waren zu viele, um sich bei jeder daran erinnern zu können, warum es auseinander ging. Wenn er überhaupt je mit einer richtig zusammen war. Trotzdem erinnerte er sich. Sie war eine Ausnahmeerscheinung, zugegeben, eine schwarzlockige Schönheit mit südländischem Einschlag. Völlig fehl am Platze, hier auf der langweiligen Höri. Nur ihr völlig schüchternes Wesen wollte damals nicht dazu passen. Hatte sie mittlerweile komplett abgelegt. Überfahren hatte sie ihn. Nicht schlecht.
„Darf ich dir Gesellschaft leisten?“ Mara setzte sich einfach.
Fred aß und lobte, Mara erzählte und fragte. Er antwortete und staunte, sie nickte, schaute durchs Fenster. „Deine Chefin beobachtet uns“, entging auch ihm nicht.
„Meine Schwiegermutter“, sagte sie lakonisch. Die machte keinen Hehl daraus, noch während sie die Gäste in der Stube bediente, mit kalter Miene Fred zu mustern.
Wenn Blicke töten könnten.
Mara wollte reden. Sie brauchte jemanden, dem sie, frei von der Leber weg, erzählen konnte. Aber keine großen Geheimnisse. Nicht Fred. Dem nicht. Noch nicht. Jemals wieder? Aber nur ihr Leben. Was hieß schon nur ? Die schöne Mara war mit den Jahren ein wenig füllig geworden, resolut und zupackend. Das stand ihr gut. Fand Fred.
Er hatte noch nicht die Hälfte seines Abendessens verdrückt, da wusste er schon viel: Mara hatte eine fast zwölfjährige Tochter, die noch mindestens zwei Wochen eine Brille mit einem blinden Glas tragen musste. Eine harmlose Augenentzündung. Dann gab es noch eine Schwiegermutter, mit der bewirtschaftete sie das Gasthaus. Mit wochenendlichen Küchenhilfen. Mara hatte eingeheiratet, eine Liebesheirat in einen florierenden Fischereibetrieb mit Räucherei und Gastwirtschaft. Zwei Brüder gab es, Zwillinge, aber nur eine Mara. Schwager Gabriel war vor zehn Jahren in den See gefallen, morgens um halb fünf, beim Netze hochziehen, und nicht mehr aufgetaucht. Fred erinnerte sich an das Unglück seiner Mutter. Er schluckte. War aber weit weg von der Stimmung, das anklingen zu lassen. Und Mara tat es auch nicht.
Vier Tage hatte es gedauert, bis sie Gabriel gefunden hatten. War kein schöner Anblick. Große Trauer und noch größere Last hatte dieses Leid in die Familie getragen. Die Arbeit, bisher auf fünf Menschen verteilt, blieb jetzt an vieren hängen. Und Mara hatte noch Lisa zu versorgen, ein kleines, süßes Mädchen. Richtig glücklich war Mara mit ihrem Johannes nur in den wenigen Stunden, die sie für sich allein hatten. Lisa wurde vom Großvater vergöttert, die Großmutter verhärmte zusehends. „Mir brauchet koin!“ Alle zwei Tage betete Hedwig Sieder diesen Satz ungefragt an die Familie.
„Vor drei Jahren war mein Schwiegervater mit den Kräften am Ende. Wir fanden ihn neben der Räucherei. Die besten Felchen weit und breit. Aus. Und vorbei.“ Fred blieb der Bissen im Hals stecken, so unbeteiligt erzählte Mara über den Tod des alten Sieder. Sie ließ es nicht zu, Fred sollte keine Fragen stellen, erzählte weiter, jeden Moment konnte die Schwiegermutter auf die Terrasse kommen und sie mit einer fadenscheinigen Begründung nach innen zerren, weg von Fred. „Da waren´s nur noch drei!“
Mara nippte an ihrem Apfelschorle, das sie vorsorglich mitgebracht hatte, nebst einem zweiten, unbestellten Radler für Fred, damit sie nicht zu schnell wieder aufstehen musste. „Aber auch nicht lange. Ein gutes Jahr später, es war eher ein schlechtes, verschwand Hannes von heute auf morgen. Ich seh es wie gestern, es war der 30. Juli 2010. Plünderte das Familienkonto und war weg. Einfach weg.“
Eine kurze Pause entstand, die sie etwas näher brachte.
Und wieder spürte sie, wie leer, wie verzweifelt sie damals war. Verzweifelt, weil sie es sich nicht erklären konnte. Warum war er gegangen? Sie hatte keinerlei Anzeichen gespürt. Fast unmerklich schüttelte sie den Kopf. Fred wollte sie nicht unterbrechen, auch nicht in ihrem Schweigen. Das einzige, was er gerade anbieten konnte, war zuzuhören. Es wunderte ihn nicht, daß das Verhältnis zwischen den zwei Frauen eisiger wurde, je weniger Männer in der Familie waren. Eine grausige Vorstellung für ihn, diese Zwangsgemeinschaft, zwei Menschen, die gegensätzlicher nicht sein konnten, führten gemeinsam, wenn dieses Wort dafür verschwendet werden durfte, eine Wirtschaft. Widerwillig versuchte er sich eine ähnliche Situation zwischen sich und seinem Vater vorzustellen.
An der Freien Tankstelle tankte er und suchte etwas zu lesen für den Sonntag. Neben dem „Konstanzer Boten“ lag „Die Zeit“ noch übrig im Regal. Heute war Samstag. Sicher das letzte Exemplar. Oder das Einzige. Nahm sich auch „Die Zeit“, schon wegen der auffälligen Titelunterschrift.
Fred war in Hemmingen angekommen. Die weit verteilten Straßenlaternen warfen ihr mattes Licht in seinen Wagen. Die Wochenzeitung schlug mit ihrem Deckblatt nach den grauen Schatten und verlangte Freds Aufmerksamkeit. Amüsiert registrierte er noch einmal die Überschrift: „DIE ZEIT“ und darunter „...ist relativ!“
Sonntagfrüh
Kein Kaffee der Welt konnte Freds Kräfte zurückholen.
Hatte er je einen Hauch von Lust verspürt, in diesem Haus zu bleiben, so war sie mittlerweile versickert. Wieder eine unruhige Nacht. Bockig saß er an einem der alten Gasttische, in die Eckbank gedrückt von seiner eigenen schlechten Laune. Rührte mit dem Löffel im Kaffee, obwohl weder Milch noch Zucker aufzulösen waren.
„Es reicht. Was mach ich eigentlich noch hier? Zusehen, wie mich dieses Haus ruiniert, an den Rand des Wahnsinns treibt? Oder darüber hinaus!“ Allein sprach man am besten mit sich selbst.
Ein schönes Haus. Aber jede Ecke erinnerte Fred an seinen Vater.
Hätte ruhig mal anrufen können. Hatte wahrscheinlich ein schlechtes Gewissen.
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