„Die Vrenie“, so hieß sie auch im Dorf. Sie war derart beliebt, da hätte man gern geglaubt, sie sammelte alle Sympathien in der Nachbarschaft ein, um sie für ihre Familie zu horten.
Konrad Keller war von einer Art... ja, er konnte es einem richtig schwer machen. Vielen im Dorf. Hier geboren und trotzdem zurückhaltend, wenn es um die Geschicke des Ortes ging. Eingebunden im Fischereiverein aber zugleich wortkarger Eigenbrödler. Ein begnadeter Fischer und ein Schnapsbrenner mit dem richtigen Riecher. Das reichte, um die Stubenwirtschaft lebendig zu halten.
Eines Morgens fiel Vrenie aus dem Boot und ertrank.
Die polizeilichen Untersuchungen brachten keine Zweifel. Ein Unglück, tragisch zwar, vor allem unter erfahrenen Fischern, aber leider kein Einzelfall. Das Resümee war zynisch: Fischer müssen mit der Tatsache leben, je länger sie auf den See hinausfahren, umso größer wird das Risiko, über Bord zu gehen und zu ertrinken.
Mit seinen neun Jahren bot Fred einen Anblick sprachloser Traurigkeit. Er brauchte lange, bis er verstand, daß seine Mutter nicht mehr auftauchen würde. Nicht mehr in seinem Leben, nicht mehr aus dem See.
Als Fred älter wurde, hielt er es der Einfachheit halber wie ein Großteil der Hörianer – er gab seinem Vater die Schuld. Daran, daß seine Mutter nur kurze Zeit in dieser Welt glücklich sein durfte.
Konrad musste schuldig gesprochen werden. Er hatte dem Kind die Mutter geraubt. Dieses Stigma ertrug Konrad, jeder Blick auf der Straße, in der Wirtschaft, markierte ihn, schwächte sein angebrochenes Herz.
Fortan fuhr der alte Keller nur noch selten raus, zog aus dem See, was der an Fischen hergab und hielt sich mit seiner Schnapsbrennerei und der Wirtschaft über Wasser. Verließ selten das Grundstück und behielt seinen heranwachsenden Sohn im Auge. Konrad Keller wollte ein besserer Vater werden, wenn er dem Jungen schon nicht die Mutter ersetzen konnte. Doch der Männerhaushalt stand unter keinem guten Stern, Alfred war von dem, was sein Vater Erziehen nannte, nicht begeistert. Anfangs stritten sie wenigstens noch, nach ein, zwei Jahren schwiegen sie sich nur noch an, sogar auf dem See. Am Ende gingen sie sich aus dem Weg.
Der alte Keller war nicht mehr in der Lage, die Hände, die sich ihm entgegen streckten, zu erkennen. Er suchte keine Hilfe für seinen streunenden Sohn, der um die Dörfer zog wie ein räudiger Hund. Es kam nicht einmal zu einem nachbarschaftlichen Streit, weil sie sich aus dem Weg gingen. Er verkroch sich in sein Haus. Hin und wieder kam ein größeres Paket. Den einen oder andern hätte es schon interessiert, was der Konrad ständig bestellte. Die Wirtschaft blieb schon lange leer. Kein Fischer, kein Spaziergänger, der beim Keller saß, um sich alte Geschichten anzuhören. Und neue gab es nicht.
Bis er an Herzversagen starb.
So stand es im Befund des Arztes.
Der See half Fred mit unaufgeregten Wellen. Er entspannte sich, seine Gedanken machten sich unbemerkt auf die Reise.
In Freds Erinnerung schoben sich die besänftigenden Worte des Notars. „Glücklicherweise musste Ihr Herr Vater nicht mehr leiden. Nach gewissenhafter Einschätzung des ihn untersuchenden Arztes trat der Tod wohl sofort ein.“
Die Sätze hatten ihn aber nicht beruhigt. Im Nachhinein hatte er sich gewundert, weil er sofort über das Wörtchen mehr gestolpert war.
„Glücklicherweise musste Ihr Herr Vater nicht mehr leiden.“
Musste er denn vorher leiden? Worin bestand das Leid, das man ihm , das er sich zugefügt hatte? 18 Jahre, Freds halbes Leben, fehlten die Versatzstücke aus Konrads Leben. Was hatte ihn beschäftigt? Suchte er Ablenkung in der Literatur? Das Boot war erstaunlich in Schuss. Hatte er sich jemals gefragt, wie es Fred ging? Warum hatte Konrad Keller die Zeit um die Testamentseröffnung so aufwendig inszeniert?
„...vielleicht ist es Dir vergönnt, liegt es in Deiner Bestimmung, was mir trotz aller Anstrengungen verwehrt geblieben ist...“
Ein bisschen klarer hätte er sich schon ausdrücken dürfen, auch wenn er mit mir seinen Spaß haben will.
Er hätte seinem Vater an die Gurgel springen können. Noch hatte er zwei Tage Zeit, das Erbe anzunehmen. Zeit, sich zu entscheiden, welchen Weg er gehen wollte.
Der Tod des Vaters hatte Fred zur Rückkehr an diesen Ort gezwungen. Eine ungewollte Reise in die eigene Vergangenheit.
Aber Fred wird sich jeden Tag aufs Neue wundern. Die Rätsel, warum er ruhelos schlafwandelte, werden zu unglaublichen Entdeckungen und Aufgaben führen. Fred war auf dem Weg in eine Zeit, die jenseits seiner Vorstellungskraft lag. Und jeden Tag, den das Haus, besser sein Vater, wohldosiert Geheimnisse preisgab, tat er einen großen Schritt in eine ganz andere Vergangenheit.
Vier Häuser vor dem Ende der Sackgasse parkte ein roter Wagen.
Die Frau behielt die grünen Espandrilas an, die sie während der Autofahrt trug. Flach mussten sie sein, um den Widerstand des Bremspedals zu brechen, das sie ungern benutzte. Der 68-iger Mustang fuhr mit Automatic. Ersparte ihr immerhin zu kuppeln.
Fred bemerkte sie nicht. Er hörte nichts, registrierte nicht die Toncollage, die aus monotonem Wasserklatschen an seiner Hauswand, dem knarzigen Kieselsteinweg und den vereinzelt lachenden Möwen entstand.
Sie schlich sich nicht an, hatte keinen Grund, ihr Anliegen zu verbergen. Eine Objektvisite, ganz normal, so normal, sie hielt es nicht einmal für nötig, die zum Kostüm passenden Stilettos anzuziehen. Ihr grasgrüner Rock hatte genau die Länge, die ihre schlanken Beine gut zur Geltung brachte und doch mit einer Handbreit über dem Knie seriös genug war für einen Antrittsbesuch bei einem potentiellen Verkäufer. Gemeinsam mit der seidigen, senfgelben Bluse, die dezent ihre festen Brüste betonte, vermittelte Renie den Eindruck, den sie vermitteln wollte: zu diesem Ambiente zu passen, als gehörte sie seit ewigen Zeiten dazu.
Sie berührte den Griff der Gartentür. Da bemerkte sie den Mann, der am Steg saß. Ein schönes Bild irgendwie, dachte sie. Das Schilf, auf die Hilfe des Windes angewiesen, um dem Mann näher zu sein, um im nächsten Moment wieder fortgerissen zu werden. Die Wiese, deren Gras sich selbstbewusst gegen bestimmt ein Dutzend Blumensorten stellte, aufrecht und ohne Spuren, als hätte der Seesüchtige niemals einen Fuß auf diese Erde gesetzt, um seinen Weg zu gehen.
Minutenlang wartete sie so, aus einem unerfindlichen Grund nicht in der Lage, in diese Szene eindringen zu können. Diese andere Seite vom Zaun war anders. Als romantisches Klischee wollte sie es abkanzeln, ertappte sich aber dabei, wie ihr das Bild mehr und mehr gefiel. Dieser gewöhnliche private Kosmos eines Menschen, der ruhig und zeitlos verdammt weit weg von allen Turbulenzen des Alltags schien. Der Glückliche.
Mit ihrem Blick über den Zaun, ihrer Hand an der Tür war die Zeit irgendwie stehengeblieben. Es muss Minuten gedauert haben, bis sie eine Möwe im Tiefflug durch einen Flügelschlag zurück holte. Für den Bruchteil einer Sekunde deckte der Vogel die Sonne ab, der Schatten auf ihrem Gesicht veränderte die Wahrnehmung. Die Hand schmerzte. Sie hielt die ganze Zeit den Türgriff gedrückt, auf dem Sprung, den Moment der günstigsten Gelegenheit nicht zu verpassen.
Renie drehte sich weg, die Zuschauerin wurde wieder zur Strategin. Heute würde sie ihn nicht stören, wenn es denn für ihn überhaupt als eine Störung hätte empfunden werden dürfen, von ihr besucht zu werden. Irgendetwas sagte ihr, bei ihm müsse sie anders vorgehen als sonst. Und auf ihr Gespür konnte sie sich verlassen. Bloß, wie?
Minuten später blieb von dem Mustang nicht mehr, als ein paar Tropfen kondensierten Wassers aus dem Auspuff.
Und die Erinnerung eines Schattens.
Samstagabend
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