Sie saßen am Bootssteg beim Haus seines Vaters, erfanden die Welt neu und spuckten um die Wette Kirschkerne in den See. Der Mond hatte ein Einsehen, beleuchtete den romantischen Flecken und die Kreise, die die Kirschkerne hinterließen. Es war seelenruhig, das Schilf raschelte vertraut, Fred wühlte in ihren Haaren, langsam kippten sie auf den Steg und küssten sich. So konnte es ewig weiter gehen.
Plötzlich hörte er auf und suchte aus dem Korb ein besonders schönes Kirschpaar. Frech hielt er es vor ihren Mund, ließ sie aber nicht zuschnappen, sondern hängte es an ihr Ohr. Sie lachten, genossen die Situation, kicherten wie kleine Kinder, boxten sich sachte, als wollten sie sich gegenseitig vom Steg stoßen. Fred näherte sich knurrend wie ein Raubtier und knabberte das Kirschpaar vom Ohr, was Mara mit kleinen „Hilfe, Hilfe“ -Schreien begleitete.
„Ich hab endlich ne Sitzbank gefunden. Kann ich morgen abholen. Originalrot. Kommst mit?“ Fred legte seinen Arm um Mara, sie spürte seine Kraft – und seine Leidenschaft für sein Moped. Er sprach ja nicht viel, aber darüber gern. Es war ein Glückskauf, 750 Mark musste er hinlegen für die KS 80. Der Typ wollte mehr rausschinden, „ist schließlich garantiert eine der Letzten“, meinte er.
„Das war aber vor acht Jahren“, antwortete Fred. Damit war das Verhandlungsgespräch beendet. Dessen Mutter wollte ihn nicht weglassen, noch ein Stück Kuchen, noch eine Cola und wie nett er doch sei und überhaupt ist das Motorrad ja jetzt in guten Händen. Ja, das war sie, die Zündapp. Er hatte noch keinen Führerschein, dafür eine KS 80 Super. War aber noch nicht ganz das, was er wollte.
Sein Traum - wenn er zurückdachte, war das zu der Zeit tatsächlich einer seiner wenigen Träume, den er hatte und stur verfolgte. Bis er erfüllt war. Er wollte eine KS 80 Sport. Davon wurden aber nur 500 Stück gebaut. Bis die Japaner den deutschen Mopedherstellern vollends die Luft abdrehten und auch die Marke Zündapp die Fabriktore schließen musste. Fred fand keine ‚Sport’, nicht zu dem Preis, den er hätte bezahlen können. Also beschloss er, einfach eine der weitaus gängigeren ‚Super’ umzubauen.
Zwanzig Wochenenden beim Abschleppdienst steckten da drin, selbst verdientes Geld. Das wenige Taschengeld vom Vater reichte grad so für Zigaretten und einmal im Monat eine Flasche Bacardi. Die dazugehörige Cola ging nebenher. Bis zum Sommer hatte er die Maschine zweimal zerlegt, die von einigen Stürzen verschrammten Blechteile wieder ausgebeult und lackiert. Er musste sowieso alles neu lackieren. Die Bauteile der Modelle waren zwar gleich, aber Verkleidungen, Schutzbleche und Tank waren Blau, die Alugussfelgen Silber. Die weiß zu spritzen, ohne daß es nach Pfusch aussah machte ihn fast wahnsinnig. Noch schwieriger würde der Tank werden, das ahnte er. Zweifarbig rotschwarz, mit einem dünnen weißen Streifen dazwischen. Der Streifen musste auf der Höhe der Sitzbank ansetzen und schräg nach vorn bis zum Wasserkühler laufen. Er hatte es hinbekommen, sah richtig gut aus.
Das waren Wochen, da hatte Fred keine Fingernägel mehr, sondern schwarze Krallen und Schmiere in den Fingerfalten, die es nicht lohnte, nur für die Schule ständig zu schrubben.
„Sehen doch morgen eh wieder so aus“, war sein einziger Kommentar, wenn der Vater zufälligerweise auf sein Äußeres einging. Fred vermisste nicht einmal ein Lob seines Vaters, immerhin hatte er in monatelanger Arbeit einen Modellumbau geschaffen, der nun glänzend vor ihm stand. Er war dermaßen stolz auf sich.
Über 200 Mark musste er noch für Sprühlack, einen schärferen Vergaser und die Sitzbank hinlegen. Der Vorbesitzer hatte sich glücklicherweise schon die originale Sebring-Auspuffanlage der ‚Sport’ an seine ‚Super’ gegönnt. Diese Investition konnte er sich also sparen.
Eigenartigerweise gab er mit dem Sport-Auspuff bei den Mädchen mehr an als bei den Jungs. Als ob er bei ihnen mehr Sachverstand voraussetzte und glaubhaft machen konnte, mit der Anlage und den 10 PS 115 Sachen drauf zu haben. „Normal läuft die 80, aber was ist schon normal?“
Träumend fuhren sie dem frühen Morgen entgegen. Die kalte Nacht hielt sie wach. Es gab so eine Stunde auf der Höri, da schienen sich die Geräusche aus dem Weg zu gehen. Kein bellender Hund, keine krächzenden Vögel, noch kein wichtigtuerischer Hahn. Der einzige Wind, der zu spüren war, war der Fahrtwind. Mara klebte an Freds Rücken, die Arme fest um ihn geschlungen. Mit Fred verstand sie sich sprachlos, ihr Körper war sein Körper, der das Moped in die Kurven drückte, bis die Fußrasten auf der Straße schleiften.
Fred hatte ihr von einem Kumpel mit großer Klappe erzählt, ganz cooler Typ und so. Saß hinten drauf und hätte fast einen Unfall provoziert.
„Der Typ hatte Angst, daß wir umkippen und hat sein Gewicht immer auf die andere Seite wie ich gelegt. Ich kam schier nicht durch die schnellen Kurven. So ein Idiot.“ Er musste lachen, als er dran dachte. „Der hat´s bis in die Steinzeit verschissen, das sag ich dir.“
Mara lachte ihn aus. „Die Steinzeit liegt aber in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft“.
Fred schaute sie an, wie nur er es konnte. Kein ausbüchsen möglich. Und antwortete mit einem geheimnisvollen Unterton:
„Wer weiß?“
Mara haderte. Das Bier schäumte. Zu groß war der Druck, den sie ins Glas leitete. Langsam setzte sich der Schaum. Wenn sie jemand heut früh gefragt hätte, ob sie sich aus dem Stand an ihren untreuen Fred erinnern könnte, ins Gesicht hätte sie dem gelacht und den Vogel gezeigt. Nun stand sie da und wunderte sich über sich selbst. Als ob über all die Jahre ein Bodensatz Fred in ihr erhalten geblieben war, auf dem sie ihr Leben aufbaute. Dabei war es definitiv nicht so. Was sollte sie tun? Sollte sie sich zu erkennen geben, möglicherweise erinnerte er sich ja von selbst, wenn er sein Essen bestellte? Auf dem Weg nach draußen fiel ihr eine dritte Möglichkeit ein.
„Der Wurstsalat auf Ihrer Karte, machen Sie den selbst?“ Fred wollte auf Teufel komm raus ein Gespräch anzetteln, mehr als nur seine Bestellung abgeben, mehr als zehn Sekunden dieser Frau ergattern.
„Der ist nicht nur frisch, den macht meine – äh - den macht die Chefin höchstpersönlich.“ Freundlich wie immer, aber unsicher wie selten, was Fred nicht beurteilen konnte, antwortete sie. Mara konnte mit Gästen umgehen, die öfters aufdringlich auf sie einredeten, wenn mehrere Seidel Bier in den durstigen Kehlen verschwunden waren.
„Dann nehme ich eine große Portion. Aber nur, wenn ich Bratkartoffeln dazu bekomme.“ Wenn Fred jetzt neben sich sitzen könnte. Würde sich wundern, über diesen Ton, der hinter dieser Forderung steckte. Ein Ton, den er normalerweise nur anschlug, wenn das Gegenüber nicht mehr zu fremd war – oder er mehr wollte.
‚Er hat keine Ahnung’, dachte Mara und bevor sie antworten konnte, plapperte Fred weiter.
„Und wenn ich fragen darf, ist auf diesem wunderschönen Fleckchen Erde immer so wenig los?“ Fred verwies mit großer Geste auf diese, seine Oase, stoppte seine Hand direkt vor Mara und beendete die ausladende Bewegung in der Form eines Regenbogens.
„Sie sind zu früh.“ Längere Sätze wollten aus Maras Mund nicht raus. Sie schluckte runter, daß er eigentlich zu spät dran war, viel zu spät. ‚Und auf dein anbaggerndes Gesülze steh ich auch nicht mehr’, dachte sie schnippisch, aber auch: ‚was Du kannst, kann ich schon lange’.
„Möchten Sie die Bratkartoffeln mit oder ohne Speck?“
„Am liebsten mit allem.“ Fred bot einen ganz und gar wertfreien Blick dazu, damit die Empfängerin nicht gleich auf die Idee kam, dem unverschämten Gast mit einer Ohrfeige zu antworten.
Sollte er sein Spielchen haben. „Das dauert aber ein Weilchen.“
„Macht nix. Ich hab Zeit.“ Zum Beweis, den er niemandem schuldig war, streckte er seine Beine noch weiter unter den Tisch und lehnte sich demonstrativ an die Wärme abstrahlende Hauswand. Ja, man könnte sagen, er genoss die Situation.
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