Zur psychosomatischen Entkrampfung vom Stress, kann ich empfehlen, ist neuerdings Solo-Wedding angesagt. Dienstleistung Liebe, darüber hat sich noch keiner beklagt. Flirt-Dating ist abgehakt. Ohne Körperkontakt, keine Berührung nackter Haut, sie entführen dich für mehrere Stunden in die Illusion, du seist Bräutigam einer Braut mit sich anschließendem Thermalbad inklusive Entspannungsmassage für 999 Euro Stundengage. Solche Unternehmen prosperieren am Markt. Mit dem transatlantischen Freihandelsabkommen werden sie steuerlich gefördert, durch Börsengang sind sie immens erstarkt. Machen wir uns selbst nichts vor, wir wollen virtuos ein Solo singen und nicht vor uns hin blöken im gemischten Chor. Sei solitär, dann bist du wer! Die Zeiten sind doch längst vorbei, sich mühselig in Kollektive einzubringen. Der Mief im Kollektiv würde uns heute umbringen. Selfie ist trendy, das ist der neue Wachstumsmarkt.
Ich bin gut gelaunt, verrate entgegen meinem Prinzip, aber nur euch und bitte, sagt es niemals weiter, wie das heutzutage läuft, wo einer dem andern ein Bein stellt, jeder jeden gerne schmäht.
Do it your self. Selfpublishing. Selfie sein. Fangt endlich an, noch ist es nicht zu spät.
Im Sarge liegt ihr ohnehin allein.
Opus 1
Andante ma non troppo
Frau Magdalena Müller-Müncheberg, eine Frau in den besten Jahren, Mitte vierzig, geschieden, gewissermaßen alleinstehend, ohne Anhang, denn ihre Kinder sind aus dem Haus, möchte wieder teilhaben am Leben, sich nicht verschließen, im Alleinsein verkümmern. Sie ist kein Single aus Passion, hat vielseitige Interessen, immer schon, schaut sich gern um in der Welt, ist offen für neue Ideen, sucht Kontakte, bleibt nicht stehen, möchte sich mitnichten verplempern, weder auf- noch zudringlich sein. Sie würde sich sogar einer Frau anschließen wollen, wenn die feinfühlig um sie werben würde, aber ein Mann wäre ihr lieber, da hat sie Erfahrung, wenn auch nicht die besten. Am Ende ihrer Ehe ging es hoch her, es war nicht mehr auszuhalten mit ihm. Ritualer Sex, praktiziert wie Hochleistungssport, minutiös strapaziös, ödete sie an. Es langte ihr.
Einmal kam sie früher als sonst von der Arbeit. Da arbeitete sich ihr Mann an einer Schnepfe ab, die in ihrem Sessel splitterfasernackt entkleidet fleischelte und meischelte. Da nahm sie seelenruhig das Handy aus der Manteltasche und filmte den Spaß. Danach flogen die Fetzen, dass es nur so krachte. Sie will sich nicht beklagen. Wer wäre so vermessen, sich selbst für fehlerfrei zu halten? Aber so manches würde sie, ob letztlich besser, weiß sie nicht zu sagen, aber doch anders machen wollen. Allzu vertrauensselig wäre sie nicht wieder. Allerdings, eine Beziehung ohne Vertrauen zueinander, wäre die überhaupt wünschenswert? Sie kann warten, schauen, wie alles kommt. Allzulange aber nicht mehr, Mitte vierzig ist sie schon. Trotzdem, sich bloß keinen Zwang anlegen. Jeder hat eine zweite Chance verdient, das sagt sie sich immer wieder. Keinesfalls Hals über Kopf auf den ersten Blick, und schon gar nicht wegen ab und an einem kleinen Schnack oder Schnick.
Sie fährt nach Alt-Friedland ins Konzert, der Kulturförderverein der Klosterruine lädt jährlich im Hochsommer ein. Zwei Jahre wurde das Kreuzgewölbe des Refektoriums saniert, ein komplett neues Schutzdach montiert. Gespielt werden Johann Sebastian Bachs Aria mit dreißig Veränderungen, die sogenannten Goldbergvariationen. Das sind Klavierübungen fürs Clavicimbal mit zwei Manualen, den Liebhabern zur Gemüts-Ergötzung, von Gösta Funck auf seinem Cembalo zelebriert. Frau Müller-Müncheberg ist animiert vom Virtuosen, ein schlanker eleganter Mann mit leicht ergrauten Haaren, gepflegte Erscheinung. Aber die junge Frau, die mit ihm kam, sitzt ebenfalls im Publikum, ein glasklares K.o.-Kriterium, abgehakt. Der Nächste bitte.
Der ehemalige Speiseraum der Klosterruine ist gut besucht. Neben ihr hat ein sympathischer Herr Platz genommen, vielleicht sogar ein Bit jünger als sie. Trotzdem, ihrem Kairos schwant, halt dich ran, altes Mädchen, bleib dran an ihm. Ansonsten kein Wild auf weiter Flur, das sie abschießen kann, hier im Gewölbe des Refektoriums.
Opus 2
Adagio con spiritoso
Der Virtuose tritt vor sein Tasteninstrument, wird mit freundlichem Applaus vom Publikum begrüßt. Ihr Nachbar klatscht unziemlich laut und penetrant. Sie räuspert sich. Das stört ihn nicht. Er blickt unentwegt zum Virtuosen hin, als bete er ihn an.
Der Meister spricht ein paar Worte zum Publikum, erklärt, was es heißt, auf zwei Manualen zu spielen. Sie überlegt, wie sie den Kontakt zu ihrem Nachbarn einfädeln kann. Lässt ihr Programmblatt fallen, ein uralter Trick, meistens mit dem Taschentuch oder Schlüsselbund angewandt, damit er sich vor ihr verbeugen kann. Sie hat heute extravagantes Schuhwerk an, nadelspitz und blitzeblank. Ein Blickfang, dem er sich kaum entziehen kann. Mühsam fingert er den Programmzettel unter der vorderen Sitzreihe hervor, überreicht ihn lächelnd mit vom Bücken gerötetem Kopf. Sie lächelt milde zurück, lispelt ein samtweiches Dankeschön. Aber ich bitte Sie, gnädige Frau, vielleicht können wir in der Pause einen Kaffee trinken gehen? Er lächelt sie schelmisch an. Sie frohlockt innerlich: Wow, geht der ran und trotzdem ein Gentleman! Kein ichbezogener Alleinunterhalter. Manieren scheint er allenfalls zu haben. Als ihr Vater verstorben war, hat Jahre später ihre Mutter gesagt: merk dir eins, mein Mädchen, zwei Junge sind besser als ein Alter. Pah, war sie da entsetzt über sie. Jetzt erst kann sie ihr Mütterchen verstehen, oder hatte sie das nur aus Jux dahingesagt, ohne es selbst zu praktizieren? Sie weiß das nicht, und wird diesbezüglich keine Nachfrage riskieren.
Der Virtuose lässt die Hände fingerfertig gleiten, spielt das erste Stück, die Aria G-Dur, mit viel Geschick, streichelt förmlich die Tastatur. Frau Müller-Müncheberg wird es warm ums Herz, obwohl das Kellergewölbe nicht beheizt werden kann, doch draußen ist es hochsommerlich heiß und schwül. Sie drückt sich bequem in das Gestühl, streckt die Beine aus, strebt sanfte Tuchfühlung zu ihrem Nachbarn an. Der spürt ihre Wärme an seinem Arm, das prickelt nicht unangenehm, die Frau hat Charme. Sie schlägt ihre Beine nun kühn übereinander, zupft sich am Rock, zieht den zum Knie. Das provoziert unbewusst jeden Mann. Jetzt oder nie, denkt sie. Er aber sagt sich: Sei bloß vorsichtig, geh das langsam an.
Opus 3
Largo grazioso
Sie hat die Variationen nicht mitgezählt. Sie liebt Bach sehr, aber eine Expertin ist sie nicht, doch hat sie sich belesen. Könnte also durchaus über die gehörte Musik gescheit reden, so jemand mit ihr darüber spräche. Ob ihr Nachbar dazu in der Lage ist? Unsympathisch scheint der nicht, ich frage ihn nachher ganz spontan und teste, ob er mir geistig folgen kann oder ausweicht in Hilfsbereitschaft, so nach dem Motto, darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee vom Büfett servieren? Womöglich wieder sein albernes „gnädige Frau“ ausprobieren. Trotzdem würde sie nicht nein sagen wollen, sich aber nicht in allgemeines Gelaber verlieren, sondern über Bach und seine Söhne kenntnisreich parlieren. Ein bisschen Geist muss sein, sonst kriegt sie niemand jemals wieder in die Kiste, hat sie neulich erst zu ihrer Tochter gesagt. Die hatte sie explizit danach gefragt, ob sie denn grundsätzlich schmolle und nur noch allein leben wolle, was sie, gelinde gesagt, von ihrer Tochter ungehörig fand.
Versunken in angenehme Träumerei studiert Frau Müller-Müncheberg mit Kennerblick die Backsteinstruktur des Kreuzgewölbes, sieht, welche Steine erneuert worden sind. Bestaunt die Stützen, die aus Kalkstein gehauen. Ein feste Burg ist unser Gott , warum fällt ihr das Lutherlied jetzt ein? Sie hört doch Bach! Mit der Reformation wurde das Nonnenkloster säkularisiert. Nach dem zweiten Weltkrieg sind sogar noch vorhandene Kemenaten der Nonnen in Wohnungen für Umsiedler umgestaltet worden.
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