Resigniert wollte Llauk sich abwenden, bereit, seine letzte Münze für eine einzige Mahlzeit zu opfern, als ihn die Stimme des Kapitäns zurückhielt.
"Tja, Herr, jetzt hast du mich auf eine Idee gebracht. Dass ich auch nicht früher daran gedacht habe! Du hast einen so schönen, schlanken Körper, Herr. - Mein Bootsmann machte mich darauf aufmerksam. - Ich bin sicher, dass du ihm einiges helfen kannst, bei einer Arbeit die man nur zu zweit tun kann. Dann wirst du Essen bekommen. - Glaub mir, ich selbst habe sehr großes Interesse daran, dass dein schöner, weicher Mund nicht leer bleibt."
Llauk verstand. Er konnte sein letztes Geldstück opfern oder behalten, es blieb sich gleich. Über kurz oder lang würde er doch auf die Vorschläge des Kapitäns eingehen müssen.
"Überleg nicht zu lange, Stoffmacherlein." Der Kapitän schaute mit kaltem Blick zu Llauk auf. "Gelegenheiten kommen und gehen, und ich denke, jetzt ist die Gelegenheit, mir für meinen großzügigen Vorschlag zu danken."
Gleichmäßig zog das Schiff seine Bahn durch das endlose Meer. Totenstill war es an Bord, nur ab und zu war das Knarren des Tauwerks zu hören. Alle Männer des Schiffs hatten die Augen auf das Achterdeck gerichtet, wo Llauk vor dem Kapitän niederkniete, den Kopf neigte und seine Dankbarkeit bewies.
"Es wird Sturm aufkommen!" Sorgenvoll betrachtete der Kapitän der Großen Geliebten den Himmel. "Es wird ein schwerer Sturm werden, wir müssen uns vorbereiten."
"Ungewöhnlich für diese Jahreszeit, aber du hast recht, Herr", bestätigte der Bootsmann.
Seit Llauk für das persönliche Wohlergehen der beiden Männer verantwortlich war, durfte er sich den ganzen Tag lang auf dem Achterdeck aufhalten. Dank seines ehemaligen Sklaven Tos eb Far konnte er den Sinn der auf Dramilisch geführten Unterhaltung verstehen. "So ein schlimmer Sturm wie bei unserer Abfahrt?", wagte er zu fragen.
"Das war kein Sturm." Der Bootsmann hatte seit ein paar Tagen eine gewisse Schwäche für Llauk. Wenn sich an Bord jemand bereit fand, den Passagier zu beachten, dann meistens dieser stämmige, extrem dunkelhäutige Dramile. "Das war ein starker Wind."
Llauk fand, dass der Bootsmann übertrieb. Schlimmer als in den ersten Tagen konnte es doch gar nicht mehr kommen, meinte er.
"Lass Segel und Taue überprüfen und die Luken fest verkeilen", wies der Kapitän den Bootsmann weiter an. "Ab der Tagteilung ist mit stark aufkommendem Wind zu rechnen. Ich möchte nicht so kurz vor der Heimat noch absaufen."
Llauk wunderte sich, dass die Mannschaft die Anweisungen ihrer Vorgesetzten so ernst nahm. Vielleicht war ja doch etwas Wahres an der Voraussage des Kapitäns. Jedenfalls stürmten die Leute förmlich in die Masten, und Llauk konnte beobachten, wie jedes Segel, jeder Knoten, ja jede Handbreit Tau, genauestens untersucht wurden. Ab und zu fand einer der Männer eine schadhafte Stelle; dann wurde diese entsprechend verstärkt, oder das Material wurde komplett ersetzt, je nachdem.
Als Segel und Tauwerk gerichtet waren, gingen die Männer daran, die Luken des Laderaums wasserdicht zu verkeilen und Haltetaue quer über das Deck zu spannen.
Llauk schaute zum Himmel hinauf. Nur ein paar weiße, faserige Wolkenfetzen waren am Horizont zu erkennen. Deswegen die ganze Aufregung? Wenn sich eine dunkle Wolkenwand drohend über das Schiff geschoben hätte, ja dann ... Aber so kam ihm die ganze Übung eher lächerlich vor.
Da niemand ihn im Moment zu brauchen schien, und um nicht ganz untätig zu sein, kletterte er vorsichtig über die Haltetaue, hin zu seiner Ware. Das Laufen bereitete ihm einige Schwierigkeiten. Bei seiner täglichen Arbeit für den Bootsmann hatte er sich eine kleine Verletzung zugezogen, die ihn ein wenig behinderte.
Bei seinem Stapel Ware angekommen, legte er prüfend die Hand darauf. Die Ballen waren fast trocken. Vielleicht war doch nicht alles verloren. Vielleicht ließ sich die Ware ja doch noch zu einem guten Preis verkaufen. Feine Stoffe für Dramilien ...
"Achtung!", brüllte der Steuermann plötzlich los.
Llauk schaute sich um. Es war nichts zu sehen. Was der Mann wohl hatte?
Traumversunken zupfte Llauk gerade an der Verspannung der Stoffballen herum, als die erste Böe das überladene Schiff traf. Ein leichtes Kräuseln des Wassers hatte dem Steuermann im letzten Moment verraten, was auf die `Große Geliebte' zukam, er hatte es aber doch nicht mehr geschafft, das Schiff aus dem Wind zu nehmen.
Krachend schlug der Windstoß in die Segel des Zweimasters, der, viel zu tief im Wasser liegend, stark zur Seite krängte.
Llauk verlor den Boden unter den Füßen. Das Deck war plötzlich zu einer schiefen Ebene geworden, auf der seine Füße keinen Halt mehr fanden. Hilflos hing er an der Verzurrung seiner Stoffballen und sah entsetzt, wie das Wasser auf dem schrägstehenden Deck unter ihm immer höher stieg.
Stärker und immer stärker wurde der gewaltige Druck des Windes. Die starken Holzmasten vibrierten in ihren Verkeilungen und bogen sich bis fast auf das Wasser hinab.
Llauk schrie ununterbrochen. Krampfhaft hielt er sich an dem rettenden Tau fest, während das Deck sich annähernd im Rechten Winkel zur Wasserfläche befand und die reißende See ihn bis zum Brustkorb erfaßte. Undeutlich sah er, wie sich die Männer der Besatzung ebenfalls festklammerten, wo immer sie sich gerade aufgehalten hatten.
"In die Masten!", brüllte von irgendwoher der Kapitän. "Wenn die Segel voll Wasser schlagen, sind wir verloren!"
Llauk traute seinen Augen nicht. Tatsächlich setzten sich einige der Männer in Bewegung und hangelten sich Hand über Hand in die Takelage empor. Bevor sie jedoch auch nur ein einziges Segel hatten reffen können, ließ der Druck der Böe ein wenig nach. Langsam, unendlich langsam, richtete die `Große Geliebte' sich wieder auf.
Mit zitternden Gliedern ließ Llauk sich auf das Deck gleiten. Mit einem kleinen Schrei rutschte er sofort auf die Reling zu, die mit ihrem unteren Teil noch unter Wasser lag.
Nun hatten die Männer in den Masten die ersten Segel eingeholt. Immer mehr Segelflüge ließ der Kapitän reffen, bis das Schiff vollständig ruhig und gerade im Wasser lag.
Der Wind, der vor der Böe gleichmäßig und beständig gewesen war, schlief nun vollständig ein. Mit hochgezogenen Segeln dümpelte die `Große Geliebte' auf der Stelle.
Am Horizont war ein schwarzer Streifen erschienen, der höher und höher stieg. Bald schon waren die ersten Blitze zu erkennen, die daraus hervor in die See zuckten.
Der Kapitän rief die Männer vor dem Achterdeck zusammen. "In weniger als zwölf Sonnenhöhen wird ein Sturm uns ergreifen, wie ihn wohl noch keiner von uns erlebt hat. Öffnet jetzt eine neue Proviantkiste und nehmt Euch das Beste daraus, aber trinkt nicht zu viel Wein. Wir brauchen jede Hand und all unsere Kraft!"
Schweigend gingen die Leute ans Werk, doch den meisten mochte das beste Fleisch und der köstlichste Käse nicht so recht munden. Alle Männer auf dem wie tot daliegenden Schiff schauten immer wieder besorgt auf die herannahende Wetterfront.
Unter der schwarzen Wolkendecke zeigte sich nun, neu und beängstigend, eine weiße Linie, die sich mit gleicher Geschwindigkeit vorwärts schob. "Die See kocht", bemerkte einer der Männer halblaut.
"Schließt jetzt die Kiste und verstaut sie gut", bestimmte der Bootsmann. Mancher der Männer nahm schnell noch einen letzten Schluck Wein, dann wurde die Kiste fest verkeilt und obendrein noch mit Tauen gesichert.
"Geht auf eure Posten!"
Schaudernd sah Llauk, wie einige der Männer in die Masten kletterten und sich dort, an ihren Einsatzorten, mit starken Leinen sicherten. Andere nahmen ihre Position auf Deck ein und banden sich ebenfalls an das Schiff. Kapitän und Bootsmann hatten ihre Sicherungsleinen, genau wie der Steuermann, an dem schweren Ruderbalken befestigt.
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